17 Aug 2024

Der Zauberberg: A Lesson in Context

Der polnische Regisseur Krystian Lupa inszeniert den „Zauberberg“ – auf Litauisch. Geht das?

„Unübersetzbar.“ So nannte Fredrik Böök den „Zauberberg“. Der schwedische Literaturwissenschaftler stemmte sich als Mitglied des Nobelpreis-Komitees so sehr gegen den Roman, dass Thomas Mann den Literaturnobelpreis in erster Linie für die „Buddenbrooks“ zugesprochen bekam. Der Autor selbst reagierte darauf höchst verwundert, sagte in einer Rede 1939, der „Zauberberg“ sei so sehr ein „deutsches Buch“, dass „fremdländische Beurteiler seine Weltmöglichkeit völlig unterschätzten“.

Der magische Übersetzer. Heute, 100 Jahre nach der Ersterscheinung, ist das Magnum Opus in 27 Sprachen übersetzt worden – bei den Salzburger Festspielen wird man ihn in litauischer Sprache hören, in einer Adaption und Textfassung des polnischen Regisseurs Krystian Lupa, mit deutschen und englischen Übertiteln. Als „philosophischen Regisseur des modernen Theaters“ bezeichnet Schauspielleiterin Marina Davydova Krystian Lupa. In seinen Inszenierungen ist er Regisseur ebenso wie Bühnenbildner, Lichtregisseur und natürlich Autor. Als solcher tritt er in den Dialog mit den großen Literaten der Weltgeschichte – oft hat er Thomas Bernhard inszeniert, Robert Musil, W. G. Sebald, Dostojewski und nun Thomas Mann. „Er tritt in den Dialog mit diesen Autoren, und darin erlebt der Zuseher nicht nur ein Zwiegespräch zwischen großen Persönlichkeiten, sondern auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, so Davydova.

Den „Zauberberg“ muss man in dieser Hinsicht wohl eher als Polylog bezeichnen – sind doch (mindestens) drei Sprachen beteiligt – und unzählige kulturelle Hintergründe. Es ist ein interessantes Experiment, die deutsche Sprache, die Mann als so mächtiges Instrument einsetzt, aus der „Zauberberg’schen Gleichung“ herauszunehmen. Denn was dann umso deutlicher zutage tritt, ist die Internationalität – die von Mann beschworene „Weltmöglichkeit“ des Romans. „Seine Unübersetzbarkeit ist eines der reizvollsten Elemente des ,Zauberbergs‘“, meint Krystian Lupa, „aber nicht in dem Sinne, den das Nobelpreis-Komitee als Ausrede benutzt – das halte ich für kurios und lächerlich.“ Vielmehr sei es die Vielfalt der Sprache(n), die sich im Roman ergibt – schließlich ist für zahlreiche der Romanfiguren Deutsch eine Fremdsprache: Settembrini ist Italiener, Madame Chauchat ist Russin, Naphta ist Galizier, Peeperkorn ist Niederländer, um nur einige zu nennen. „Der ,Zauberberg‘ ist selbst ein magischer Übersetzer“, meint Krystian Lupa, „wir haben hier eine internationale Gesellschaft. Und diese Gesellschaft geht ganz verschieden an die Sprache heran: wenn ein Italiener Deutsch spricht – dann spricht er doch bis zu einem gewissen Grad noch Italienisch. Mann schreibt auch die wesentliche Szene mit Madame Chauchat auf Französisch – obwohl er selbst sehr schlecht Französisch sprach –, weil er selbst sagte: Auf Deutsch hätte ich sie nicht schreiben können.“ Es ist eben jenes Gespräch, in dem Hans Castorp, nach deutsch-französischem Hin und Her, letztlich ausruft: „Oh, ich spreche Deutsch, auch auf Französisch.“

Die innere Sprachbarriere. „Man kann sagen, dass die Menschen, wenn sie in ihrer Muttersprache sprechen, einander nicht völlig verstehen – denn sie gehen von ganz unterschiedlichen gedanklichen Landschaften aus, wenn man so will. Hans Castorp neigt insbesondere dazu: Wenn er bestimmte Ausführungen seiner Gesprächspartner nicht versteht, dann übersetzt er sie geradezu skrupellos – mit seinem jugendlichen Elan und jugendlicher Freiheit – in seine eigene Verständniswelt. Das gegenseitige Verständnis von Menschen, die miteinander sprechen, ist für mich gleichzeitig etwas Faszinierendes und eines der Hauptthemen in diesem Roman.“ Als Leser des „Zauberbergs“ sind wir dem von Lupa beschriebenen Elan des Castorp unterworfen – im Zuschauerraum des Salzburger Landestheaters, das Litauische im Ohr, das Deutsche und das Englische im Auge, können wir Castorps und damit unsere eigene innere Sprachbarriere überwinden und den Blickwinkel verändern. „Wir werden natürlich alles daran setzen, die Übertitel so zu gestalten, dass das Stück gut verständlich ist – wie wenn man einen Film in einer fremden Sprache mit Untertiteln sieht“, versichert Lupa, führt aber aus: „Ich möchte nie im Leben einen Film in Synchronisation ansehen – denn ich möchte die Originalstimme des Schauspielers hören und das, was er mir damit mitteilt. Denn er sagt mir immer ein bisschen etwas anderes als das, was ich in den Untertiteln lese. Es gibt Augenblicke, in denen ich mich so sehr in das vertiefe, was mir diese Originalstimme sagt, dass ich aufhöre zu lesen, auch wenn ich die Sprache nicht spreche – denn ich verstehe trotzdem. Und mein Wunsch ist es, dass die Zuschauer meines Stückes einen ähnlichen Effekt spüren.“

Übersetzung auf die Bühne. Man ist versucht, die nun vielbesprochene „Unübersetzbarkeit“ des „Zauberbergs“ auch auf die Bühne zu beziehen – wie um Himmels willen schafft man es, einen Tausend-Seiten-Roman, bestehend fast ausschließlich aus Gesprächen und einem Heer von Figuren, so auf der Bühne abzuhandeln, dass das Stück nicht zu einem Mehrtagesmarathon wird? „Ich glaube, ein theatralisches Äquivalent von einer Erzählung wie dem „Zauberberg“ zu machen, das ist etwas Unmögliches“, stellt Lupa, durchaus überraschend, fest, „ich muss mich also auf ein bis zwei wesentliche Motive beschränken – und die dann komplett erzählen“. Wie wird das aussehen? „Etwas, das ich nicht verlieren möchte, ist die Langsamkeit dieses Prozesses, den der Roman schildert. Schließlich sind diese sieben Jahre, die der Hauptdarsteller im Sanatorium verbringt, ein wesentlicher Faktor in seiner Entwicklung.“ Eben diese Entwicklung, die Wandlung des Hans Castorp, will Lupa in den Mittelpunkt stellen: „Was für mich faszinierend ist, ist die Verwandlung eines Menschen von einer sozial bürgerlichen Person, einem Produkt seiner Epoche, hin zu dem Menschen, der er potenziell sein könnte, wenn er sich losrisse von den verlogenen Einflüssen. Es geht um einen Selbstwerdungsprozess des Menschen. Es ist sehr wichtig, dass Thomas Mann, während er den ,Zauberberg‘ schreibt, selbst einen tiefen Verwandlungsprozess miterlebt.“ Mit der Niederschrift beginnt Mann 1913 – als der Erste Weltkrieg ausbricht, sieht er ihn zunächst als Befreiung und Notwendigkeit, bricht sogar den Kontakt zu seinem kriegsgegnerischen Bruder Heinrich ab. Als er den „Zauberberg“ 1924 fertigstellt, hat er sich von diesem Gedankengut distanziert. Aber noch ein zweites zentrales Motiv findet Lupa für seine Adaption: „Unsere Hauptfigur verliert im Sanatorium völlig das Gefühl für die Zeit – und gleichzeitig für den eigenen Sinn. Er verfällt in eine Art der Nicht-Existenz, sein ursprüngliches Ziel geht verloren. Ich glaube, der Mensch muss das Gefühl für den eigenen Sinn verlieren, um den globalen Sinnesverlust der Menschheit zu erkennen, der letztlich zum Krieg führt.“ Manchmal muss man eben einen Schritt zurücktreten, um den größeren Kontext zu erkennen.

Barbara Wallner
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

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