„Ich möchte nicht meine Ideen auf der Bühne sehen“
„Ich bin eine unglaubliche Materialfetischistin und immer auf der Suche nach Wahrheit.“
Der Regisseur Nicolas Stemann und die Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt bringen im Sommer „Die Orestie“ auf die Bühne der Perner-Insel. Die beiden führen seit dreißig Jahren eine „Arbeitsehe“ und überraschen sich trotzdem noch. Sich von Gewissheiten zu verabschieden, darin sind beide gut, sagen sie.
Sie beide arbeiten seit 1995 kontinuierlich zusammen. Wie sind Sie künstlerisch aufeinander neugierig geworden?
Nicolas Stemann: Kennengelernt haben wir uns während unseres Studiums bei meinem ersten Studienprojekt. Da habe ich das erste Mal so etwas wie Regie geführt. Das Regieinstitut war in den Zeisehallen in Hamburg (Anm.: ehemaliges Gelände der Schiffsbaufabrik Zeise), und da gab es so einen langen Industriegang, der mich als Raum sehr fasziniert hat. Ich habe viele Sachen in den Gang gehängt, auch Tücher, die von oben herunterfallen konnten. Ich dachte: „Das ist Theater, dass man genau solche Bühneneffekte hat.“ Später kam Katrin dazu – sie war bei dem Projekt für das Licht zuständig – und sagte: „Lass doch dein Bühnenbildgedöns und diese ganzen Tücher weg, erst dann kommt der Raum so richtig zur Geltung.“ Das habe ich gemacht, weil mir ihr Hinweis total eingeleuchtet hat. Wir haben also gleich bei unserer ersten Begegnung begonnen, nach etwas Realem im Theater zu suchen, und nicht nach etwas bloß Dekorativem. Später haben wir viele Projekte in der Freien Szene zusammen gemacht, auch mein Diplomstück 1997, „Die Möwe“ am Kampnagel, einem Theater in Hamburg. Mit diesem Stück waren wir an den verschiedensten Orten in ganz Europa und auch bei Festivals. Seit damals führen wir so etwas wie eine Arbeitsehe.
„Gib das ganze Gedöns weg“: Schön, dass Sie gleich bei Ihrer ersten künstlerischen Begegnung selbstbewusst aufgetreten sind.
Katrin Nottrodt: (lacht) Im Grunde habe ich mich damals gleich selbst abgeschafft, indem ich zu Nicolas sagte, er solle die ganze Dekoration weggeben. „Wie kann es sein, dass die Bühnenbildnerin genau das Konträre von dem tut, was man vermuten würde?“, das kann man sich schon fragen.
Ihre Antwort?
K.N.: Ich bin eine unglaubliche Materialfetischistin. Ich bin immer auf der Suche nach Wahrheit, im Sinne von: Was stimmt für den jeweiligen Raum? Diese erste Begegnung in den Industriehallen hat unsere weitere Zusammenarbeit sehr geprägt. Damals hatten wir kaum Mittel. Wir mussten aus budgetären Gründen, aber auch aus einer gewissen Ästhetik heraus mit wenig einen Theaterraum kreieren. Die Fragen „Was braucht es? Was ist sinnvoll? Worauf müssen wir uns fokussieren? Wo ist eine Verortung wichtig, um eine Wahrheit und eine Atmosphäre für das Stück zu schaffen?“ haben wir uns von Anfang an gestellt.
N.S.: Weil Katrin die Realität der Verhältnisse und die Probenbedingungen angesprochen hat: Für uns war es in unseren Anfängen eine wichtige, prägende Erfahrung, eine Ästhetik zu schaffen, indem wir Widerstände bejaht haben. Die Akustik ist schlecht? Dann nehmen wir Mikros. Wir haben kein Budget? Dann stehen da eben nur drei Tische in einem leeren Raum. Daraus ist eine Ästhetik entstanden, die noch heute überall zu sehen ist. Für uns war das aus der Not geboren. Wir brauchen nicht immer das Maximale, wir können umgehen mit dem, was wir vorfinden, auch wenn wir mittlerweile natürlich auch sehr opulente Produktionen zusammen machen – wie z. B. „Riesenhaft in Mittelerde“, die es zum diesjährigen Berliner Theatertreffen geschafft hat.
Diesen Sommer machen Sie gemeinsam „Die Orestie“ auf der Perner-Insel. Wie ist das? Nähert sich jeder von Ihnen erst einmal allein dem Stoff an oder befinden Sie sich von Anfang an in einem Austausch?
N.S.: Das ist jedes Mal ein bisschen anders. Ein Bühnenbildentwurf muss jedenfalls sehr früh abgegeben werden, denn meistens müssen aufwendigere Dinge gebaut, die Zeiten in der Werkstatt eingeplant und Budgets erstellt werden. Deswegen steht am Beginn jeder Inszenierung, dass ein Raum entworfen werden muss.
Zu diesem Zeitpunkt kennen Sie den Text des Stückes schon in- und auswendig?
N.S.: Nein, eben nicht. Besser gesagt: Das kommt darauf an, was man macht. Manchmal gibt es zu Beginn noch gar keinen fertigen Text, so wie jetzt bei der „Orestie“. Ich übertrage den Text ja selbst, da ist die endgültige Fassung selbst in den Proben noch nicht fertig. Bei mir entsteht sehr viel bei der Arbeit mit den Schauspielern. Kurzum: Wenn wir uns das erste Mal zusammensetzen, wissen wir noch gar nicht genug, um den Raum entwerfen zu können. Nun haben wir beide ja mittlerweile eine fast 30-jährige Erfahrung mit diesem Dilemma, aber dieser Moment ist jedes Mal wieder eine Herausforderung. Man muss sehr Wesentliches setzen, ohne wirklich zu wissen, wofür, gleichzeitig stellt man aber damit schon wichtige Weichen für die Zukunft.
K.N.: Sehr richtig beschrieben. Das ist absolut fordernd. Ich höre Nicolas sehr genau zu, oft fallen Schlagworte wie: „Es ist alles offen“, mit denen ich viel anfangen und arbeiten kann. Es ist ein Herantasten an die Materie, wenngleich ich mich schon intensiv mit der „Orestie“ beschäftigt habe. In diesem Fall hat mir sehr geholfen, dass ich von Anfang an die Perner- Insel, diesen wahnsinnig tollen Raum, vor Augen hatte.
Wenn Sie einen Bühnenraum wie die Perner-Insel zum ersten Mal betreten, wissen Sie dann sofort, was möglich ist und was nicht?
K.N.: Ich nehme den Raum erst mal so, wie er ist, und suche seine Qualitäten und Möglichkeiten. Bei der Perner-Insel hat mich zum Beispiel sofort die Oberfläche der Rückwand mit all ihren vielen Gebrauchsspuren und in all ihrer Morbidität extrem interessiert. Mir fiel auch gleich auf, dass der Blick vom Zuschauerraum auf den Boden gerichtet ist. Da war mir klar, er muss eine Fläche bekommen. Ich hatte Entwürfe mit einem Boden, der reflektiert. Dann haben Nicolas und ich uns wieder getroffen, und er sagte: „Ah, das ist Meer.“ Daraus hat sich wieder etwas entwickelt. Ich arbeite immer mit großer Offenheit. Es geht darum, dem Stück mit seinen vielen Facetten und Geschichten Ebenen zu geben.
N.S.: Ein einziges Mal habe ich diesen Prozess umdrehen können, und zwar beim „Faust“: Da gab es erst die Inszenierung, und der Bühnenbildentwurf kam hinterher. Entsprechend sieht das dann auch aus, vor allem der erste Teil: irgendwelche Türen aus dem Fundus, die fast auseinanderfallen, Farbe, die verspritzt wird, Packpapier – das ist so schrottig, das kann man sich gar nicht ausdenken. War aber super, gerade deshalb.
Sie kennen einander sehr gut. Können Sie einander noch überraschen?
N.S.: Ja, Katrin überrascht und fordert mich jedes Mal aufs Neue mit Dingen, die von ganz woanders herkommen als von mir.
K.N.: Nicolas überrascht mich ständig, er ist ein Meister darin, andere Vorzeichen zu setzen.
Das macht die Arbeit lebendig, aber vielleicht auch schwierig: Wie schwer fällt es Ihnen, eigene Visionen und Bilder zu adaptieren oder sie sogar zu verwerfen?
N.S.: Ich glaube, unsere Arbeit zeichnet aus, dass jeder von uns willens ist, wieder alles aus der Hand zu geben, alles umzuwerfen. Wir sind beide gut darin, uns von Gewissheiten zu verabschieden, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass dann immer mehr entsteht als zuvor. Das gilt aber auch für die Arbeit mit den Schauspielern und auch mit mir selbst. Dieses klassische Regietheater, bei dem ein Regisseur eine Idee hat, sie auf die Bühne stellt und das dann toll findet, ist überhaupt nicht mein Theaterbegriff. Ich möchte nicht meine Ideen auf der Bühne sehen. Ich möchte überrascht werden. Ich will, dass meine Ideen zermahlen, modifiziert und übertrumpft werden. Wenn man in diesem Prozess offen bleibt, kommen gute Ideen sowieso auf irgendeine Weise immer zurück.
K.N.: Das stimmt. Ich finde man erkennt sofort, ob ein Raum oder auch die Regie einfach ausgedacht sind und alles so zementiert ist. Ich spüre das sofort, wenn ich mir Arbeiten ansehe, und denke mir dann: „Kill Your Darlings, das hätte euch gutgetan. Und auch mal andersrum zu denken.“
Kommen wir noch mal zur „Orestie“. Aischylos’ Stück führt vor Augen, was der Krieg mit Menschen macht, ohne Kriegsszenen zu zeigen. Ein Kunstgriff, denn der Krieg ist umso präsenter.
N.S.: Schon Aischylos und andere antike Dichter waren mit der Frage konfrontiert, wie man Krieg darstellt. Das Stück spielt an Orten, wo Frieden herrscht, und zeigt die Seite der Gewinner. Die Grundsituation ist eine nicht gelingen wollende Siegesfeier – eigentlich absurd. Die Truppen kommen zurück und der Krieg ist gewonnen. Aber Freude und Zufriedenheit stellen sich nicht ein.
Und warum nicht?
N.S.: Weil die Menschen vielleicht doch nicht für Krieg gemacht sind, das ist jedenfalls der leicht utopische Lichtschein dieser Trilogie bei Aischylos. Die Menschen morden, weil sie glauben, im Recht zu sein, aber dann sind sie mit ihren Taten völlig überfordert. Der Krieg, all die Morde bleiben absurd, weil sie den Menschen nicht das Gefühl geben, nun Gerechtigkeit wiederhergestellt zu haben. Aus diesem Muster von Gewalt, Rache und Vergeltung müssen die Menschen wieder raus, wenn es nach Aischylos geht. Wobei schon bei Euripides, also nur eineinhalb Dichtergenerationen später, nichts mehr von dem Gedanken zu spüren ist. Bei ihm endet diese Geschichte mit Hauen und Stechen, niemand ist geläutert, alle schreien nach Rache, und das vermeintliche Happy End mit dem Deus ex machina, der alles richtet, ist eigentlich nur als Ironie und Verzweiflung zu lesen. Das ist sehr desillusionierend. Dieser ganze Komplex eignet sich allerdings hervorragend als Resonanzkörper für die großen Fragen, mit denen wir heute beschäftigt sind: „Wie kommen wir aus dem Teufelskreis wieder heraus?“
Das ist die Frage. Tatsache ist, wir sind von Krieg und Gewalt umringt, ein Ende ist nicht absehbar. Wie erfasst man das kreativ? Wie bringen Sie das auf die Bühne?
K.N.: Wir kreieren – so wie Francis Bacon (Anm.: britischer Maler, in Irland geboren, starb 1992 in Madrid) in seinem unfassbar chaotischen Atelier – unsere Bilder der Realität. Wir sind in einen Raum geworfen und befassen uns hier und heute mit dem Thema Krieg. Dabei greifen wir auf alles zurück, was uns gerade beschäftigt. Diese extreme Flut an Bildern, die uns alle überfordert, ist Teil davon. Aber nur zu sagen, wir werfen digitale Bilder an die Wand, das reicht uns nicht. Wir wollen Motive nutzen, generieren, sie physisch ausdrucken, sie auf der Bühne plakatieren und wieder abnehmen. Es hat etwas von einem kathartischen Vorgang.
Wenn Sie es sich wünschen könnten: Wie sollen die Zuschauer nach der Vorstellung die Perner-Insel verlassen?
N.S.: Uns vorzustellen, in welcher Stimmung die Inszenierung endet, davon sind wir noch weit entfernt. Aber es ist immer schön, wenn Menschen bewegt und berührt sind. Wir reagieren ja auf all die Themen, die uns ständig umgeben, mit ziemlicher Abstumpfung. Wir sind Meister der Verdrängung – darin übrigens dem Chor in „Agamemnon“ nicht unähnlich. Wir verschanzen uns in vermeintlichem Wissen und irgendwelchen Meinungen – das ist einerseits menschlich, andererseits aber auch brutal. Aischylos sagt: Menschen sind zu mehr fähig und wollen das auch. Vielleicht gelingt es, diese Verpanzerung in Bewegung zu bringen – all das Wissen wieder in eine sinnlich wahrnehmbare Form zu übersetzen, sodass sich die Leute wieder öffnen und empfindsam werden.
K.N.: Ja, dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Judith Hecht
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele