Komponieren zwischen Reflexion und Sprachlosigkeit
Bartóks Trio für Violine, Klarinette und Klavier: auf Wunsch von Geiger Joseph Szigeti und Klarinettist Benny Goodman entstanden
Mit mehr politischem Realitätsbezug als programmiert, präsentieren die Salzburger Festspiele Werke Bartóks und Schostakowitschs als Appell wider alle Grenzen.
Den Auftakt zu den musikalischen Veranstaltungen der diesjährigen Salzburger Festspiele gibt das Gustav Mahler Jugendorchester. Am 19. Juli erklingt im Großen Festspielhaus unter Teodor Currentzis’ Leitung die 13. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Voran geht ein „Kaddisch“, gesungen vom musicAeterna-Chor, das jüdische Vorbild des christlichen Vaterunser, die Heiligung des göttlichen Namens. Was folgt, ist eine der bewegendsten künstlerischen Reflexionen eines politischen Verbrechens. Schostakowitschs Symphonie aus den Jahren 1961/62 trägt den Untertitel „Babi Jar“ und entstand nach Gustav Mahlers Vorbild als Vokal-Symphonie für Bass-Solo und Männerchor auf Texte von Jewgeni Jewtuschenko. Deren erster thematisiert das Massaker von Babyn Jar, verübt von deutschen Verbänden an ukrainischen Juden im Jahr 1941. Wobei Jewtuschenkos Gedicht nicht nur die Gräueltaten selbst, sondern auch deren Vertuschung durch die sowjetischen Machthaber thematisiert, die sich noch ein Vierteljahrhundert danach weigerten, des Gemetzels durch ein angemessenes Denkmal zu gedenken.
Nun heißt es gern, dass jede Kunst in ihrem tiefsten Kern politisch sei. Dermaßen politisch und dermaßen aktuell in ihrem humanen Appell an die Nachgeborenen dürfte sich freilich in unseren Tagen kaum ein zweites Werk der jüngeren Musikgeschichte ausnehmen. Ein Appell, der über alle Grenzen und Überzeugungen hinweg gehört werden will.
Die Planungsarbeit am Programm der Salzburger Festspiele war auch längst abgeschlossen, als die reale Politik noch einmal ein grelles Schlaglicht auf ein Werk wie Schostakowitschs Symphonie warf. Ein Menetekel als Einstimmung auf einige Wochen der künstlerischen Besinnung, zu der nicht zuletzt Musik aus der Feder Dmitri Schostakowitschs aufrütteln wird.
Nebst der in der Sowjetunion seinerzeit scheel angeschauten Symphonie Nr. 13 erleben wir bei den Festspielen heuer auch ein Konzert des Hagen Quartetts mit den letzten drei Streichquartetten des russischen Meisters, der gerade in dieser kammermusikalischen Gattung seine persönlichsten, intimsten Gedanken preisgegeben hat. Die grüblerische, nur in manchen Momenten leidenschaftlich aufbegehrende Musik des späten Schostakowitsch erzählt von Angst, Zweifel, Melancholie und Verzweiflung angesichts eines Lebens unter der Knute der kommunistischen Diktatur. Die Erinnerungen halten die Atmosphäre jener Jahre fest, in denen international anerkannte Künstler mit gepackten Koffern lebten: Jederzeit konnte nächtens die Geheimpolizei erscheinen und die Menschen verhaften. Nicht selten verschwanden sie für immer. In den privaten Aufführungen der Quartette durch das Moskauer Beethoven-Quartett konnten sich die geladenen Gäste einst sicher genug fühlen, ihren Gefühlen zumindest für die beiden Konzertstunden freien Lauf zu lassen.
Die „offizielle“ Musik Schostakowitschs, also auch die große Symphonik, hatte sich der Parteidoktrin zu fügen. Dort waren politische Statements freilich erwünscht, solange sie sich nicht (auch) gegen die eigenen Interessen richteten. Auch daran erinnert das Hagen Quartett im Rahmen eines Konzerts mit Igor Levit und dem musicAeterna Chor am 25. Juli: Da erklingt nach Paul Dessau Klavierstück „Guernica“ nach dem berühmten Picasso-Gemälde und Karl Amadeus Hartmanns ausdrücklich von erschütternden Erlebnissen in den letzten Tagen der nationalsozialistischen Diktatur inspirierten Sonate „27. April 1945“ auch Alfred Schnittkes „Requiem“ und das Achte Streichquartett Dmitri Schostakowitschs, das „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ komponiert wurde.
An den Ereignissen in der Sowjetunion erlaubte man sich auch nach dem Tod Josef Stalins, nur verschlüsselt Kritik zu üben. In Schostakowitschs Zehnter Symphonie, die Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern am 29. August in Salzburg aufführen wird, findet sich als zweiter Satz beispielsweise ein grelles Scherzo, das eine Karikatur des verstorbenen Diktators darstellt, über die zuletzt die komponierten Buchstaben D-Es-C-H – das tönende Anagramm des Komponisten D. Sch. – triumphieren; ein Geheimnis, das Schostakowitsch freilich nur engsten Freunden anvertraut hat. Nach außen hin war das brillante Orchestermusik für die Leningrader Philharmoniker und ihren Chefdirigenten Jewgeni Mrawinsky, die 1959 dann auch das Cellokonzert op. 107 mit dem jungen Mstistlav Rostropowitsch zur Uraufführung brachten. Auch in diesem Werk, das Pablo Ferrández mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Joel Sandelson am 18. August mit Sergej Rachmaninows Zweiter Symphonie konfrontiert, klingt das DSCH-Motiv deutlich an.
Diesem Komponistenschwerpunkt stellt das Konzertprogramm der Salzburger Festspiele eine weitere Personale gegenüber: Unter dem Motto „Zeit mit Bartók“ gibt es Musik des ungarischen Großmeisters der Moderne zu hören, die im Konzertbetrieb sonst kaum zu hören ist. Bartók gehört ja – wie Schostakowitsch – mit einigen, wenigen Werken zu den meistgespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die Popularität des „Konzerts für Orchester“ oder des Dritten Klavierkonzerts übertüncht ein wenig die Vielfalt des Bartókschen Klangkosmos, der von frühen, an der Spätromantik eines Richard Strauss geschulten Stücken über radikal experimentelle, avantgardistische Kompositionen bis hin zu einer abgeklärten Stilistik reicht, die Bartók im amerikanischen Exil kultivierte. Durch alle diese Schaffensepochen zieht sich die Beschäftigung mit echter ungarischer Volksmusik, deren reinste Ausprägung den Komponisten oft zu kühnsten Klangvisionen inspiriert hat.
Spannende Kombinationen. In diesem Sinne wird es bei den diesjährigen Festspielen aufschlussreiche Begegnungen mit frühen Klavierwerken geben, zu denen der stets zu Erkundungstouren aufgelegte Pierre-Laurent Aimard am 29. Juli bittet: Er stellt eine Auswahl aus Bartóks bizarr-expressiven „Burlesken“ (op. 8c), „Nänien“ (op. 9a), „Studien“ (op. 18) und „Bagatellen“ (op. 6) einigen kaum bekannten Spätwerken von Franz Liszt und virtuosen Etüden von György Ligeti gegenüber.
Kammermusik aus mehreren Schaffensphasen Béla Bartóks kombinieren die Geigerin Isabelle Faust und Klarinettist Daniel Ottensamer im Verein mit den Pianisten András Schiff und Dénes Várjon und den Schlagwerkern Martin Grubinger und Erwin Falk am 12. Augst. Das ungewöhnliche Instrumental-Treffen ermöglicht aparte Kombinationen, sodass neben der Zweiten Violinsonate auch die brillante Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug erklingen kann, sowie die „Kontraste“, ein Trio für Violine, Klarinette und Klavier, das auf Wunsch zweier großer Interpreten entstand: Der Geiger Joseph Szigeti und der Jazzklarinettist Benny Goodman waren an Bartók herangetreten mit der Bitte um ein Werk, das sie mit ihm gemeinsam aufführen konnten und das entfernt vielleicht den Lisztschen „Rhapsodien“ ähneln sollte. Wie deren gegensätzlicher Aufbau aus schwerblütigem Auftakt und rasantem Final-Tanz prallen auch in Bartóks Trio die titelgebenden Kontraste aufeinander. Freilich: Nach der Uraufführung legte der Komponist noch einmal Hand an und fügte als Intermezzo zwischen die beiden Teile einen Abschnitt namens „Pihenő“ ein, was so viel wie Ausruhen bedeutet, einen melancholisch versonnenen Traum von einer verlorenen seelischen (und wohl auch körperlichen) Heimat, wie Bartók ihn auch im zentralen Satz seines viel gespielten „Konzerts für Orchester“ in Töne gesetzt hat.
Urwüchsig energiegeladen. Zwei Tage nach diesem Konzert (am 14. August) antworten Patricia Kopatchinskaja und Fazil Say mit Bartóks Erster Violinsonate und der Sammlung „Rumänischer Volkstänze“, denen sie durchaus verwandte Kompositionen von Leoš Janáček (die Violinsonate) und Maurice Ravel (die Rhapsodie „Tzigane“) gegenüberstellen.
Als Bartók-Spezialist outet sich heuer auch Yefim Bronfman, der in den beiden Konzerten der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons am 7. und 8. August vor Mahlers Fünfter Symphonie das zweite der Klavierkonzerte Bartóks zur Aufführung bringen wird, ein Werk des Übergangs, auf halbem Wege zwischen den rhythmisch ungebärdigen, expressionistischen Klängen des Konzerts Nr. 1 und dem geradezu verklärten, klassizistischen Konzert Nr. 3 aus der amerikanischen Periode des Komponisten. Das energiegeladene Stück lässt hören, wie Bartók die Kraft der urwüchsigen Volksgesänge aus seiner Heimat, die er Seite an Seite mit seinem Kollegen Zoltán Kodály gesammelt hat, als Ausgangsmaterial für eine zeitgemäße Tonsprache nutzte.
In seinem Soloabend am 10. August konfrontiert Bronfman dann Beethovens leidenschaftliche „Appassionata“ und Chopins hochromantische Dritte Klaviersonate mit der Solo-Sonate Bartóks und der Klavier-Suite op. 14, die beiden umfangreichsten Solo-Werke des Komponisten für sein Instrument, die – wie das Zweite Klavierkonzert – viel von ihrer Thematik der Beschäftigung mit der Volksmusik verdanken, ohne jedoch echte Zitate zu verwerten. Ausdrücklich bekannte der Komponist, mit diesen Werken die Klaviertechnik verfeinern und modernisieren zu wollen, dem akkordisch massiven Stil der Spätromantik endgültig abzuschwören und Musik zu schaffen, die man als „sehnig und muskulös“ empfinden konnte.
Auch dem Streicherklang versuchte Béla Bartók stets auf diese Weise neue Farben abzutrotzen. Eine spannende Zeitreise können auch die beiden Abende des Jerusalem Quartet werden, die am 1. und 3. August sämtliche Streichquartette spielen werden, am 1. die ungradzahligen Stücke, am 3. die gradzahligen. Sechs Werke hat Bartók zur Königsdisziplin der Kammermusik beigetragen. Sie stehen neben Schostakowitschs Quartetten einzigartig in der Musikgeschichte der Moderne als Bestandsaufnahme aller Möglichkeiten, die das mehrsätzige Genre einem aufgeschlossenen Komponisten bieten konnte – etwa unregelmäßige, „bulgarische Rhythmen“ im Quartett Nr. 5, über kühne Dissonanzballungen (in Nr. 3) bis zum sanften, freilich zwischdurch auch noch höchst expressiven Spätstil im Quartett Nr. 6, das noch in Budapest 1939 vollendet wurde, aber erst 1941 durch das Kolisch Quartett in New York uraufgeführt wurde. Das Werk beginnt und endet mit einem unendlich traurigen Bratschen-Solo, dessen Schmerz schon ahnungsvoll vorwegzunehmen scheint, was die Kunst noch zu betrauern haben sollte . . .
von Wilhelm Sinkovicz
Zuerst erschienen am 20.07.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele