Nähe in Zeiten der Distanz
Schauspieldirektorin Bettina Hering über die Neudeutung des Reigen und andere zeitgenössische Reflexionen.
Sie haben für „Reigen“ zehn zeitgenössische Autorinnen und Autoren gebeten, eine heutige Fassung von Schnitzlers Original zu schreiben. Wurden Ihre Erwartungen dabei erfüllt?
Bettina Hering: Wir haben mit großer Akribie Autorinnen und Autoren ausgesucht, die von ihren Zugängen, den Themen, die sie interessieren, und den Gegenden, aus denen sie kommen, ganz unterschiedlich sind. Unser Ziel war es, zu zeigen, wie ein Gegenwartsstück mit den Inhalten von Schnitzlers „Reigen“ umgehen kann. Es soll eine zeitgemäße Reflexion über das aktuelle Liebesverhalten und dessen Möglichkeiten sein. Wir behalten die wirklich geniale Form von Schnitzler bei, und die so entstandenen Szenen erörtern auch, inwiefern es die soziale Leiter, die Schnitzler beschreibt, heute noch gibt. Als wir das Projekt zu Pandemiezeiten planten, stand die Frage, wie sich Liebe, Nähe und Sexualität in äußerst ungewöhnlichen Zeiten gestalten, noch mehr im Fokus. Jetzt hat sich einiges verschoben, was wir auch daran merken, dass einer unserer Autoren, Mikhail Durnenkov, aus Russland ins Exil gegangen ist. Wir haben ihn gefragt, ob er aufgrund der aktuellen Ereignisse seine Szene umschreiben möchte, und er hat das in kürzester Zeit getan. Mehrfach haben also die Zeitumstände Veränderungen bewirkt.
Wie kamen Sie just auf diese zehn Autorinnen und Autoren?
Weil sie schriftstellerisch überzeugend und gewichtige Stimmen in jenen europäischen Ländern sind, in denen sie leben oder aus denen sie stammen. Es sind nicht alle in erster Linie Dramatikerinnen und Dramatiker, wie etwa Leif Randt oder Sharon Dodua Otoo; es eint sie aber der Umstand, dass sie alle sehr dramatisch und dialoglastig schreiben. Randt etwa ist großartig darin, Paare zu beobachten – mikroskopisch genau. Seine Sprache hat etwas Künstliches und nimmt Anleihen an einem Jargon, der in unserem Alltag auf vielen Plattformen verwendet wird. Allesamt sind es Autorinnen und Autoren, die sich mit den Themen des „Reigen“ beschäftigen: mit Umbruchsituationen, mit der Frage, wie Liebesbeziehungen und Beziehungen im Allgemeinen gestaltbar sind, was Abhängigkeit bedeutet, ob und wie Geschlechter heute zu definieren sind. Die Szenen bilden in ihrem Pluralismus darüber hinaus auch die unterschiedlichen Zugänge des kontemporären Theaters ab.
Die zehn Autorinnen und Autoren kann man zusätzlich bei den „Recherchen“ genauer kennenlernen – welche Art von Texten werden sie bei diesen Lesungen mit Diskussion präsentieren?
Mir war wichtig, diese aufregenden Autorinnen und Autoren nach Salzburg einzuladen, damit das Publikum sie noch genauer verorten kann. Wir haben alle gebeten, etwa zehn Minuten aus einem Text vorzutragen, der eine zentrale Position ihres Œuvres darstellt, in der Originalsprache; selbstverständlich wird übersetzt. Wir erwarten uns ein sehr lebendiges Forum, denn diese zehn Autorinnen und Autoren haben eine Menge zu sagen, künstlerisch wie persönlich.
Einen Konnex zu Schnitzler könnte man auch bei der Lesung aus „Madame Bovary“, die Margarita Broich gestaltet, herstellen . . .
Die Bovary steht stellvertretend für die vielen Frauen in Abhängigkeit, für die Opfer, die in dieser Festspielsaison spartenübergreifend thematisiert werden. Natürlich hängt das auch mit Schnitzler zusammen, auch bei ihm geht es ja oft um dieses „Wehe, wenn sich die Frauen von ihrem angestammten Platz wegbewegen“. Die Bovary ist eine ambivalente Figur, die sich befreien will, aber nicht kann – und die zugleich andere mit in den Abgrund reißt. Es wird das flirrende Bild einer Frau entstehen, die schwer zu fassen ist und eine Emanzipationsfigur ihrer Zeit war. Sowohl „Reigen“ als auch „Madame Bovary“ aus unserer Gegenwart zu befragen, finde ich thematisch in unserem Zusammenhang wichtig – und das kann Theater.
Ein weiterer Abend bringt eine Marathonlesung von Dantes „Göttlicher Komödie“. Wie vermittelt man dem Publikum dieses Werk?
Bei Marathonlesungen präsentiere ich gerne Bücher, die, salopp gesagt, jeder kennt, aber niemand gelesen hat. Ich möchte die Zuhörer dazu bringen, auf kulinarische Weise, in vielstimmiger Interpretation in das Werk, in solch ein Universum einzusteigen, aber ohne Druck, dass man alles sofort verstanden haben muss.
von Theresa Steininger
Zuerst erschienen am 26.07.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele