3 Jun 2024

Ouverture Spirituelle

Et exspecto – und ich erwarte

Die Ouverture spirituelle kreist 2024 um jene Hoffnung, die über den Tod hinausgeht, bringt aber auch Zweifel und Verzweiflung im Angesicht von Abschied und Ende zum Klingen.

„Gerade die politische, finanzielle, wirtschaftliche, kulturelle, glaubensmäßige, ideologische, einseitige Unterdrückung, die umso ärger ist, je mehr sie sich als schlaue Freizügigkeit tarnt, fordert meine tiefsten, rebellischen Instinkte heraus, und ich werde nie aufhören, dagegen zu kämpfen“: So betonte Luigi Nono noch 1987, drei Jahre vor seinem Tod, sein solidarisches Handeln und gesellschaftliches Engagement. Dass die Kunst selbst den konkreten, direkten Weg zur Verbesserung der Welt weisen könne, daran hat er damals wohl nicht oder nicht mehr geglaubt. Aber dass Nonos Musik die Kraft besitzt, Utopien fühlbar zu machen, und somit auf lange Sicht Zuversicht und Hoffnung zu formulieren vermag, davon konnte sich das Publikum der Salzburger Festspiele immer wieder aufs Neue überzeugen. So ist denn auch die Ouverture spirituelle 2024 nicht etwa mit „Credo“ – „ich glaube“ –, sondern mit „Et exspecto“ – „und ich erwarte“ – überschrieben.

2024 wäre der italienische Komponist Luigi Nono 100 Jahre alt geworden. Die Festspiele bringen aus diesem Anlass eines seiner zentralen Werke, Il canto sospeso, zur Aufführung. In diesem – wörtlich übersetzt – „aufgehobenen, eingestellten, schwebenden Gesang“, der seit der Uraufführung 1956 nichts von seiner Brisanz verloren hat, verwendet Nono Abschiedsbriefe hingerichteter Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand und setzt diese auf der Basis des Serialismus, aber auch in Anlehnung an die Raumklangwirkung und Polyphonie der Renaissance sowie die italienische Madrigalkunst in Musik – und zwar so, dass die Wahrnehmung der Worte eben weitgehend „aufgehoben“ ist, dem unmittelbaren Verständnis entzogen wird: eine bewusste Verfremdung und Abstraktion. Tobias Moretti führt als Sprecher die Solistenriege an. Maxime Pascal, der das ORF Radio-Symphonieorchester Wien und den Chor des Bayerischen Rundfunks leitet, kombiniert Nono mit einem seiner direkten Vorgänger in Bezug auf ein Musiktheaterkonzept, das auf gesellschaftliche und politische Haltung pocht: Luigi Dallapiccola. Dessen Oper Il prigioniero ist ein ebenso düsterer wie stringenter, packender Einakter. Faszinierend, wie Dallapiccola die Vergangenheit der Spanischen Inquisition mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs überblendet. Mit Tanja Ariane Baumgartner, Georg Nigl und John Daszak sind dabei eindrucksvolle Sängerdarsteller·innen aufgeboten.

Stärker ins Mythische zielt Beat Furrers Begehren. Dem aus der Schweiz stammenden Komponisten galt schon 2018 mit der Reihe „Zeit mit Furrer“ ein besonderer Festspiel-Schwerpunkt. In seinem 2001 uraufgeführten Musiktheaterwerk verbinden sich antike Texte rund um den Orpheus-Mythos mit neuzeitlichen Echos. Eine herkömmliche Handlung gibt es nicht, stattdessen überlagern einander Wellen des Abschieds, des Erinnerns und Suchens; die Klangpalette schöpft bis hin zum Atemgeräusch so gut wie alles aus. Koloratursopranistin Sarah Aristidou, der vielseitige Christoph Brunner, Cantando Admont und das Klangforum Wien werden vom Komponisten persönlich geleitet

Die dritte große konzertante Opernaufführung im Rahmen der Ouverture spirituelle gilt Koma (definitive Fassung 2019) von Georg Friedrich Haas nach einem Libretto von Händl Klaus: Michaela liegt im Wachkoma. War es ein Unfall oder etwa versuchter Suizid? Sie ist da und zugleich unsagbar weit entfernt, gefangen im Nirgendwo – und wird umringt von ihrer Familie und deren Erinnerungen. Seine suggestive Musik verbindet Haas mit einer wesenhaften Finsternis, die er über weite Strecken auch auf der Bühne einfordert: Alles wird aus Michaelas Perspektive wahrgenommen. Das Klangforum Wien und Bas Wiegers, der zu Haas’ bevorzugten Dirigenten zählt, sind Garanten für eine unvergesslich eindringliche Musiktheatererfahrung.

Das Konzertprogramm der Ouverture bringt das Warten und die Erwartung, die Furcht vor dem Künftigen und die Freude darauf, den Ausblick und den Vorschein quer durch die Jahrhunderte zum Klingen. Der Glaube an die Auferstehung erfordert dabei unweigerlich die Konfrontation mit dem Tod. Das ehrwürdige Eingangsportal bildet deshalb diesmal Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, eines der Monumente der abendländischen Musikgeschichte. Unter Teodor Currentzis singen und spielen die Mitglieder von Utopia, Julian Prégardien und Florian Boesch übernehmen die Partien von Evangelist und Jesus. Ein ganz anders geartetes Pendant wird Bachs Matthäus-Passion mit Georg Friedrich Händels grandiosem Oratorium Israel in Egypt gegenübergestellt. 1739 in London uraufgeführt, beschreibt es die biblischen Ereignisse von Josephs Tod über den Frondienst der Israeliten in Ägypten bis zu Mirjams Triumphlied nach dem Zug durch das Rote Meer und der Vernichtung der pharaonischen Streitmacht – ein Sujet von bestürzender Aktualität. Der Chor wird dabei zum entscheidenden Träger der musikalischen Aussage. Mit den famosen Ensembles Monteverdi Choir und English Baroque Soloists unter Peter Whelan sind Experten für Händels Subtilität ebenso wie für seinen überwältigenden Prunk am Werk.

Dazu werden immer wieder Brücken zwischen Zeiten, Stilen und Bedeutungsnuancen geschlagen, die die Ouverture spirituelle zum faszinierenden Ort der Begegnung mit selten Gehörtem machen: Werke von Antoine Brumel, Thomas Tallis, Alessandro Striggio, Marc-Antoine Charpentier, Michel-Richard Delalande treffen auf Kompositionen von György Kurtág, Sofia Gubaidulina, George Crumb, Arvo Pärt, Gérard Grisey, Claude Vivier, Georg Friedrich Haas, Pēteris Vasks oder Jörg Widmann und verbinden sich zu einzigartigen musikalischen Erfahrungen – in Deutungen durch Lionel Meunier und Vox Luminis, The Tallis Scholars unter Peter Phillips, Christoph Sietzen mit Motus Percussion, die Camerata Salzburg, das Klangforum Wien, Jordi Savall mit La Capella Reial de Catalunya und Le Concert des Nations, das Minguet Quartett, Patricia Kopatchinskaja und viele weitere. Sie bringen Musik der Hoffnung wie der Verzweiflung zum Klingen, sie loben Gott im Te Deum und klagen im De profundis aus der Tiefe zu ihm, sie beweinen Verstorbene: „Et exspecto“ meint Trauer, Trost und Erwartung zugleich.

 

zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2024