19 Jul 2022

Schuld und Erlösung

"Ich finde es sehr berührend, den Schmerz dieser Frau mitzuerleben, ihre Suche nach Liebe"

Regisseur Romeo Castellucci bringt Béla Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg und Carl Orffs Oratorium De temporum fine comoedia zu einem Musiktheaterabend zusammen.

Blaubart führt Judit in sein Schloss und stellt ihr nochmals frei, zu gehen. Sie aber hat für ihn alles hinter sich gelassen und ist fest entschlossen, als seine Frau bei ihm zu bleiben. Doch erst nach und nach kann sie ihm die Schlüssel zu den sieben Türen des finsteren Saales abringen: Sie findet dahinter Folterwerkzeuge, Waffen und Schätze; den Garten und Blaubarts unermessliche Ländereien; seinen Tränensee. Aus der siebenten Türe schließlich treten drei Frauen heraus, Judits Vorgängerinnen: gekrönt, stumm, bleich. Die erste habe er am Morgen gefunden, die zweite am Mittag, die dritte am Abend. Ihr, Judit, gehöre nun die Nacht, erklärt Blaubart und setzt auch ihr eine Krone auf – ihr, der allerschönsten. Die Tür schließt sich hinter allen vieren. Blaubarts letzte Worte lauten: „Nacht bleibt es nun ewig, ewig, ewig.“

Ein dunkles Stück über eine dunkle Beziehung – und doch hat es seinen Anfang genommen in einem hell erleuchteten bürgerlichen Salon. Die Kaufmannsgattin Emma Gruber, die selbst Klavier spielte, komponierte und später die Ehefrau von Bartóks Freund Zoltán Kodály werden sollte, unterhielt in Budapest einen musikalisch-literarischen Zirkel. Dort machte sie Béla Bartók mit dem Dichter Béla Balázs bekannt und trug auch dessen „Blaubart“-Drama vor. Balázs hatte den Stoff zwar aus der Dramenversion „Ariane et Barbe-Bleue“ des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck übernommen, ihn jedoch neu gedeutet und anders gefasst: unter dem Eindruck jener ungarischen Balladendichtung, die auch Bartók und Kodály faszinierte. Damit näherte er nicht den Inhalt, aber sehr wohl die Form wieder ihrer ursprünglichen, erzählerischen Gestalt eines Märchens an, ohne seine Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit aufzugeben: Es ist dieselbe Kongruenz von Modernität und Rückgriff auf die Vergangenheit, die auch Bartók mit seiner suggestiven Musik anstrebte: schillernde Klänge zwischen Pentatonik und Chromatik, Leitmotiven und Ostinati, Tonalität und Atonalität, zwischen Zärtlichkeit und Gruseleffekten. Dazu trägt auch jener „Prolog des Barden“ bei, welcher der Partitur vorangestellt ist und mit narrativer Geste sowohl in die Handlung als auch konkret in die Musik einführt – doch dabei offenlässt, ob die Bühne ein inneres oder äußeres Geschehen darstellt. Sieben Jahre lang galt „Herzog Blaubarts Burg“ rundheraus als unaufführbar, bis die Oper 1918, im selben Jahr wie Puccinis „Trittico“ in New York, ihre Uraufführung in Budapest erleben durfte: ein eigentümlicher Meilenstein der Moderne.

„Ich finde es sehr berührend, den Schmerz dieser Frau mitzuerleben, ihre Suche nach liebe.“

Die letzten Dinge. „Bei Bartóks ‚Blaubart‘ stellt sich ja wegen dessen Kürze immer die vielleicht banal wirkende, aber zugleich künstlerisch überaus wichtige und wesentliche Frage, was man diesem Werk hinzfügt, welche Musik und welche dramaturgischen Kräfte man ihm aussetzt und in Beziehung zu ihm bringt“, sagt der Intendant Markus Hinterhäuser. Er hat sich zu einem wohlüberlegten Griff in die Festspielgeschichte entschlossen und ein Stück ausgewählt, das 1973 unter Herbert von Karajan im Großen Festspielhaus uraufgeführt worden ist: „De temporum fine comoedia“, das letzte kapitale Opus des damals 78-jährigen Carl Orff. Dieses „Spiel vom Ende der Zeiten“ auf ein selbst erstelltes Libretto in altgriechischer, lateinischer und deutscher Sprache und einer vielfach harten, unerbittlichen Musik stellt anhand der Idee des Jüngsten Gerichts die Frage, wohin das Böse letztlich gehe.

„Wir versuchen ja in diesem Festspielsommer, wesentliche Teile unseres Programms von Dante und seiner ‚Göttlichen Komödie‘ abzuleiten“, erklärt Hinterhäuser. Orffs Werk, halb Opernoratorium halb Mysterienspiel, erinnere schon von Titel und Thematik, aber auch von seiner Dreiteilung her an die „Divina Commedia“. „Das ‚Spiel vom Ende der Zeiten‘ trifft also bei uns auf die Erzählung von Judit und Blaubart und greift die dort schon verhandelten Fragen von Schuld und Erlösung wieder auf. Was bei Bartók in tiefster Finsternis endet, erhält bei Orff die Wendung zum Licht.“ Dass die zwei führenden Köpfe, also Teodor Currentzis am Dirigentenpult und Romeo Castellucci als Regisseur, die beiden so unterschiedlichen, komplementären Kompositionen auf stringente Weise miteinander verknüpfen werden, daran besteht für Hinterhäuser kein Zweifel: „Ihre Deutung wird weit über eine bloße Addition der beiden Stücke hinausgehen.“

„Judit, das sind wir.“ Romeo Castellucci hat in Salzburg 2018 mit Strauss’ „Salome“ Furore gemacht und im letzten Festspielsommer eine Deutung von Mozarts „Don Giovanni“ präsentiert, die Stoff für fundamentale Diskussionen über die Gattung der Oper und ihre Realisation auf der Bühne provoziert hat wie kaum eine andere Produktion. Er war jedenfalls sofort begeistert von dieser unerwarteten, wohl ohnehin nur in Salzburg denkbaren Koppelung: „Mag sein, dass sie philosophisch und dramaturgisch auf den ersten Blick überraschend wirkt, aber auf der rein musikalischen Ebene ergibt sie eine enorme Dynamik von Intimität und Expression. ‚Herzog Blaubarts Burg‘ ist so etwas wie die psychologische Erforschung einer Frau: Für mich ist nämlich Judit die Schlüsselfigur, viel mehr als Blaubart. Meiner Meinung nach ist er eher die Folie, auf die Judit ihre Träume, Phantome und Nachtgesichte projiziert, er spiegelt das nur wider. Diese Oper ist ein unglaublich stark ausgeformtes Frauenporträt.“

Für Castellucci nähert sich das sogar dem Erlebnis eines Dokumentarfilms an: „Das psychologische Material ist so subtil und tiefgreifend, ich finde es sehr berührend, den Schmerz dieser Frau mitzuerleben und ihre Suche nach Liebe, nach einer menschlichen, echten Bindung.“ Die Oper sei für ihn schlicht „ein Meisterwerk, vom Musikalischen her sowieso, aber auch durch Balász’ Libretto: Es ist so stark, weil es sich vom Märchen loslöst und nichts mehr zu tun hat mit dem banalen Frauenmörder. Das Gefängnis ist kein Gefängnis mehr, das Schloss ein psychologischer Ort, der zu Judit gehört: Jede Tür eröffnet eine weitere Schicht ihrer Psyche, ihres Innersten. Wir entdecken dabei ein universelles Menschenwesen, das die Lage von allen im Publikum widerspiegelt: Wir sehen unser Gesicht in ihrem. Wie Flaubert sagte, ‚Madame Bovary, c’est moi‘, können wir sagen: Judit, das sind wir.“ Dabei spürt Castellucci ein Geheimnis: „Irgendetwas in ihr ist zerbrochen, etwas in ihrer Vergangenheit, wir wissen nicht, was. Sie möchte ihr bürgerliches Leben aufgeben und ausdrücklich diesem Mann folgen, aus freien Stücken. Sie gibt alles auf, um in die Dunkelheit ihrer eigenen Seele hinabzusteigen.“

„Es ist eine Reise.“ Gerade der Kontrast wecke Resonanzen in Orffs „De temporum fine comoedia“, sagt Castellucci: „Plötzlich ist alles mechanisch, ohne jeden Raum für Psychologie“, benennt der Regisseur den fundamentalen Unterschied. „Wir, die Menschheit, wir sind nur Zahlen, müssen bereit sein für unser Urteil und vermutlich unsere Strafe. Deshalb ist sogar Orffs Musik, die ich so sehr liebe, wie eine Maschine, wie eine Armee, die gegen einen anrückt. Das ergibt eine völlig andere Perspektive als bei Bartók. Aber am Ende, und das war Orffs geniale Eingebung, gibt es eine Überraschung: Die letzte Figur, die die Bühne betritt, ist Lucifer persönlich, der Gott um Vergebung bittet mit den Worten des verlorenen Sohnes: ‚Pater peccavi! – Vater, ich habe gesündigt.‘ Das ist ungeheuer berührend: Es gibt dann keinen Raum mehr für das Böse, es wird überwunden, hat sich erübrigt am Ende der Zeiten – ein wundervolles Licht nimmt unsere Angst hinweg. Sogar Lucifer wird Vergebung gewährt.“ Da führt der christliche Glaube in mythische Tiefen hinab: Lucifer (von lat. lux, „Licht“ und ferre, „tragen, bringen“), der gefallene Engel vom Anbeginn der Zeit, war einst der Bringer des Lichts . . . Was genau Castellucci da auf der Bühne im Sinn hat, will er freilich noch nicht verraten.

Tatsache ist: Das Religiöse, das in Bartóks Werk keinerlei Rolle spielt, rückt bei Orff desto stärker ins Zentrum. „Orffs Libretto ist sehr präzise in theologischer Hinsicht und basiert auf dem Gedanken der Apokathastasis, der Wiederherstellung aller Dinge am Ende der Zeiten und der Versöhnung und Einheit aller Lebewesen mit Gott, wie sie Origenes gelehrt hat. Am Schluss lässt Orff den Ton seiner Musik umschlagen, plötzlich klingt sie so zärtlich wie ein Wiegenlied, wir erleben einen Moment reiner Liebe.“

Kreislauf der Zeit. Musikalisch wird das von einem mild glänzenden, ruhigen Kanon der Bratschen getragen – ein wahrlich magischer Moment nach all dem Vorangegangenen. Eine Art Heilung? Ja, meint Castellucci: „Die zuvor in harter, hämmernder Weise sich entfaltende Energie – etwas, das Orff wunderbar ausdrücken konnte – löst sich am Ende in etwas unerwartet Liebevolles, Süßes auf.“ Das Ende der Welt als ein neuer Anfang, die Zeit als Zyklus. „Ich möchte in meiner Inszenierung das offenlegen, was die beiden Stücke verbindet, trotz ihres ganz unterschiedlichen Fokus einmal auf das Intime, einmal auf das Universelle. Zum Beispiel im Gefühl der Schuld und im Streben nach Versöhnung. Nicht auf illustrative Weise, sondern profunder.“ Dass Bartóks Oper über hundert, Orffs Oratorium fast 50 Jahre alt ist, dass die eine Komposition vor dem Ersten Weltkrieg, die andere nach dem Zweiten komponiert wurde, nivelliert sich für den Theatermacher: „Für mich sind beide absolut zeitgenössisch – aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Bartóks Musik ist gleichsam innerhalb des Körpers und außerhalb der Zeit, jenseits akademischen Zugriffs.

Ich bin gar nicht überrascht, dass es seine einzige Oper geblieben ist, denn das Werk ist so unorthodox in der Kürze und der radikalen Verknappung auf zwei Personen, das absolute Minimum für ein Drama. Aber für diesen Minimalismus ist es so frisch und neu, als wäre es gestern komponiert. Orffs Musik ist dagegen verblüffend nahe an unserem Jahrhundert, an unserem, heute am weitesten verbreiteten Geschmack: Dadurch, dass er den Rhythmus so ins Zentrum rückt, wirkt es, als habe er Techno vorweggenommen. Das ist rein ästhetisch völlig zeitgenössisch.“

von Walter Weidringer
Zuerst erschienen am 19.07.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

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18. Januar 2022
Herzog Blaubarts Burg | De temporum fine comoedia | Salzburger Festspiele 2022