24 Jul 2024

Seelengesänge

Kongeniales Zusammenspiel für Symbiosen von Wort und Melodie, Poesie und Partitur.

In den Liederabenden und der Reihe Canto Lirico locken wieder herausragende Stimmen unserer Zeit mit großen Gefühlen in kleinen Formen.

Was ich eigentlich bin, weiß ich selbst noch nicht klar. Ob ich ein Dichter bin – denn werden kann man es nie – soll die Nachwelt entscheiden“, schrieb einstens ein Halbwüchsiger in sein Tagebuch. Er hieß Robert Schumann. Musik und Literatur, das waren die beiden Zentren seiner Begabung, und welche davon die Oberhand gewinnen sollte, blieb ihm selbst lange Zeit ein Rätsel. Waren nun Homer, Klopstock, Hölderlin seine wichtigsten Leitsterne? Oder doch eher Beethoven und Schubert? Die logische Verbindung der beiden Elemente war erstens die Inspiration von Instrumentalstücken durch Literatur, zweitens die Musikschriftstellerei. Erst an dritter Stelle vertonte Schumann Lyrik – und schuf damit einen wesentlichen, unsterblichen Beitrag zum deutschen Liederschatz.

Lyrik, nicht nur mit Musik versehen, sondern regelrecht in Musik übersetzt; das Intime, das auf Flügeln des Gesanges sich emotional aufschwingt und zugleich in die Tiefe geht: Das bewegt uns am Lied, dieser Kunstform, deren Blüte in der Romantik sich erstmals voll entfaltete. Wenn es je einen Sänger gegeben hat, der den beiden Polen Wort und Ton im Liedschaffen Schumanns mit gleicher extremer Hingabe gerecht werden wollte, dann Christian Gerhaher. Mit seinem langjährigen Klavierpartner Gerold Huber plädiert der bayerische Kammersänger auch mit dem vielfältigen Programm des gemeinsamen Festspielliederabends für Robert Schumann und keinen anderen, für Leid und Sehnen, Abschied und Verlust. „So viele Worte dringen / Ans Ohr uns ohne Plan / Und während sie verklingen, / ist alles abgetan“, heißt es dabei einmal vielsagend in Opus 96/3 nach Worten August von Platens. Eine Art Herzstück nehmen in ihrer Zusammenstellung die „Kerner-Lieder“ op. 35 ein, in Gerhahers eigener Charakterisierung der zu Unrecht weniger häufig gesungene „epische Zyklus“ an der Seite des „poetischen“ Eichendorff-Liederkreises und der „theatralen“ „Dichterliebe“ nach Heine.

Masken, Fassaden, doppelte Böden. Die künstlerische Partnerschaft zwischen dem Bariton Matthias Goerne und Salzburgs Intendanten Markus Hinterhäuser am Klavier wurde bereits weithin gefeiert. Diesmal gehen sie zwei faszinierenden und auf faszinierende Weise verschlüsselten Zyklen nach. Einerseits der „Michelangelo-Suite“, in der Dmitri Schostakowitsch vordergründig Gedichte des Renaissancekünstlers vertont, damit aber auch expressive Schlaglichter auf sein eigenes Leben im Kommunismus wirft – und zwar streng und karg, im Klavierpart teilweise geradezu asketisch. Und andererseits Gustav Mahlers vielfältigen Erkundungen der Welt aus „Des Knaben Wunderhorn“, jener Sammlung vermeintlicher Volksdichtungen, die ab 1805 von den jungen Literaten Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgebracht wurden, in vielen Fällen aber ihre eigenen, im Geiste „alter deutscher Lieder“ hervorgebrachten Schöpfungen waren. Mahler empfand das Doppelbödige, das Abgründige im scheinbar Naiven als ungemein reizvoll: Waren die Symphonie und das Lied die beiden Pole seines Schaffens, so stellte „Des Knaben Wunderhorn“ gleichsam die Bibel für seine Liedkompositionen dar, die Hauptquelle für seine Texte, neben der er (von Selbstgedichtetem abgesehen) schließlich nur noch Friedrich Rückerts Werke gelten ließ. Er ist in dem Liedprogramm mit einem seiner erschütternden „Kindertotenlieder“ vertreten.

Erschütternd: So mag man auch das Schicksal des Lyrischen Ichs in Franz Schuberts „Schöner Müllerin“ finden. Sie – genauer gesagt: die Tochter eines reichen Mühlenbesitzers – ist das Ziel aller Liebessehnsüchte eines schwärmerischen Müllersburschen auf Wanderschaft. Bald träumt er schon von einem gemeinsamen Glück, doch dann tritt ein Jäger als Konkurrent auf den Plan. Es kommt, wie es kommen muss: Der Junge hat das Nachsehen – und stürzt sich verzweifelt in die Fluten des Baches. Angeregt von einer gemeinschaftlichen Dichtung mit verteilten Rollen in einem Berliner Salon hat der Dichter Wilhelm Müller diese Handlung in einem Gedichtzyklus neu erzählt und 1821 veröffentlicht. Für seinen wenige Jahre später entstandenen Liederzyklus strich Schubert vor allem die romantische Ironie von Prolog und Epilog und machte die labile Gefühlswelt des Müllersburschen zur direkten, unbedingten, ungeschönten Realität, um sie in seiner Musik zugleich auf eine höhere, poetische Ebene zu heben. Dass dafür in Salzburg Julian Prégardien und Sir András Schiff zusammenfinden, also ein junger, mit einem kostbaren Tenor begabter Sänger und ein erfahrener, umfassender Musiker am Klavier, lässt Besonderes erwarten.

Das Besondere eines prachtvollen Mezzosoprans im Verein mit klugem Vortrag sowie einem ebensolchen Partner am Klavier verspricht auch wieder die Zusammenarbeit von Elīna Garanča und Malcolm Martineau. Neben populären Zusammenstellungen aus dem Liedschaffen von Richard Strauss und auch Henri Duparc stellt sie diesmal eine auf eigene Weise besondere Sammlung von Werken lettischer Komponisten gegenüber, die sie einst als Kind von ihrer Mutter vorgesungen bekam. Und mit Liedern von Sergej Rachmaninow bekundet sie auch ihre Liebe zum russischen Liedrepertoire.

Dramatische „Lirica“. Wer „Canto Lirico“ hausverstandsmäßig als „lyrischen Gesang“ übersetzen möchte und denkt, die Veranstaltungsreihe der Salzburger Festspiele präsentiere im Wesentlichen so etwas wie Lieder aus den Ländereien zwischen Venedig und Palermo, geht aufs Schönste fehl. „La lirica“, das ist im Italienischen zwar sehr wohl auch die Dichtkunst, die Poesie – aber ein „Teatro lirico“ ist nicht etwa eine Bühne zur Rezitation der Erzeugnisse einer Verseschmiede, sondern einfach ein Opernhaus, und „la lirica“ bezeichnet die Oper im Allgemeinen. „Der Arie ihr Recht! Auf die Sänger nimm Rücksicht! Nicht zu laut das Orchester . . .“: Diese Worte stellte Richard Strauss dem Geleitwort in der Partitur seines „Capriccio“ als Motto voran, jenes finalen Alterswerks also, das diesen Sommer das Opernprogramm der Festspiele schmückt. In diesem „Konversationsstück für Musik in einem Aufzug“, dessen Text Richard Strauss gemeinsam mit dem Freund und Dirigenten Clemens Krauss verfasst hat, spendet der Theaterdirektor La Roche diesen Rat, ein ebenso profunder wie gewiefter
Kenner und mit beiden Beinen fest auf dem Bühnenboden stehender Praktiker seiner Zunft. Es ist eine Pointe für sich, dass La Roche dabei gar nicht auf den Text eingeht, obwohl doch der Kampf von Text und Musik um die Vorherrschaft Thema des „Capriccio“ ist. In der Reihe „Canto Lirico“ freilich wird dieser alte Zwist auf höherer Ebene genauso überwunden wie in den Liederabenden.

Das beginnt bei der Mezzosopranistin Lea Desandre, im letzten Sommer der gefeierte Cherubino in „Le nozze di Figaro“. „Semper Dowland, semper dolens“ – immer Dowland, immer betrübt: Die durch höfische Contenance veredelte, zur Melancholie sublimierte Trauer des Elisabethanischen Zeitalters verkörpert sich in der Musik und Person von John Dowland, des berühmtesten Lautenisten seiner Zeit. Die Träne im Knopfloch seiner Kompositionen verfolgen Desandre und das Ensemble Jupiter unter der Leitung des Lautenisten Thomas Dunford weiter zu Henry Purcell – bis hin zum herzzerreißenden Abschied der Dido vom geliebten Aeneas und dem Leben selbst.

Das vokale und instrumentale Umfeld der Barockoperngiganten Claudio Monteverdi und Georg Friedrich Händel erforscht dagegen Kate Lindsey mit Jonathan Cohen und dem Ensemble Arcangelo. Brillierte Lindsey 2018 bei den Festspielen als Nerone in Monteverdis „Poppea“, schlüpft sie nun in verschiedene Nerone-Gestalten in Händels Schaffen.

Und ohne Juan Diego Flórez, der mit Vincenzo Scalera am Klavier nach einer glänzenden Folge von Arien und Liedern aus der Feder von Rossini, Bellini, Donizetti, Massenet, Verdi und anderen vielleicht auch noch zur Gitarre greifen und südamerikanische Evergreens zum Besten geben wird, wäre kein „Canto Lirico“ dieser Welt komplett: ¡Ay, caramba!

Walter Weidringer
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele