Über der Liebe Grenzen hinaus
Wie kann man diese Überforderung größer, theatraler beschreiben?
Mit „Liebe (Amour)“ in einer Koproduktion der Salzburger Festspiele mit den Münchner Kammerspielen wird erstmals ein Film von Michael Haneke für die Theaterbühne adaptiert. Wie geht Regisseurin Karin Henkel an die Inszenierung heran?
Eine leere Wohnung, aufgebrochen von der Polizei. Hinter einer mit Klebeband luftdicht verschlossenen Tür der tote Körper einer Frau. Rückblende: Anne und Georges sind ein Ehepaar jenseits der 70, genießen einen erfüllten Ruhestand in einer großzügigen Altbauwohnung; Konzertbesuche und Treffen mit Freunden prägen den Alltag – bis Anne einen Schlaganfall erleidet. Zunächst kümmert sich ihr Mann aufopferungsvoll um sie. Beide versuchen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Zunehmend schottet sich das Paar jedoch von der Außenwelt ab. Als sich ihr Zustand verschlechtert, bittet Anne ihren Mann um Hilfe. Für Georges geraten alle fragilen Gewissheiten ins Wanken.
Mit dieser Neuinszenierung der Salzburger Festspiele in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen wird erstmals in Österreich ein Film von Michael Haneke für die Theaterbühne adaptiert. Wie gehen wir als Gesellschaft mit Alter, Verletzlichkeit, Sterben, Sterbehilfe und Tod um? Haneke zielt mit seinem filmischen Meisterwerk „Liebe“, für das er 2013 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt, ins ethische Zentrum dieser Debatte.
Was hat Sie am Film von Michael Haneke besonders fasziniert?
Besonders beschäftigt hat mich die große Einsamkeit der beiden Protagonisten, des älteren Ehepaars, das einen solchen Schicksalsschlag erlebt, dass die Frau durch einen Schlaganfall schwer krank wird und sich sowohl körperlich als auch geistig sehr verändert, wodurch sie auch nicht mehr so mobil ist. Die beiden verbarrikadieren sich in ihrer Wohnung, wobei ich mir die Frage stelle, ob diese Isolation, durch die sie niemand an sich heranlassen wollen, nicht selbst gewählt ist, weil man in der Gesellschaft als kranke Person nicht vorkommen möchte und weil das Bild von dem, wie man eigentlich erscheinen möchte, nicht getrübt werden soll. Diese Einsamkeit, diese Isolation, die in dem Film gezeigt wird, hat mich wirklich sehr berührt.
Welche Rolle spielt dabei vielleicht auch die Scham darüber, gesellschaftlichen Normen von Gesundheit, Vitalität nicht mehr genügen zu können?
Ich glaube, diese Scham, in der Gesellschaft nicht mehr zu funktionieren, ist sehr groß. Im Film wird das ohnehin so gezeigt, und wahrscheinlich kann man das generell so äußern, dass man sich im Zustand des Alterns und Krankseins, sozusagen als „beschädigtes“ Wesen, nicht gerne zeigt, dass man gut funktionieren möchte und eine große Schamgrenze überwinden muss, um bei den alltäglichsten Dingen Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man das nicht mehr alleine kann.
Haneke lässt in seinen Werken immer wieder große Leerstellen. Wie sehen Sie diese Leerstellen?
Ich empfinde die Tatsache, dass Haneke des Öfteren – und ebenauch in diesem Film – seine Figuren nicht näher erklärt, als sehr intim, ich wohne als Zuschauer einem sehr intimen Moment bei. Indem die Kamera die Wohnung nicht verlässt, bin ich selbst wirklich ein Teil der Handlung und beobachte sie die ganze Zeit. Gewisse Aspekte hinterlassen Fragezeichen. Das gilt auch für den wichtigsten Moment, auf den der Film eigentlich hinausläuft: Die Sterbehilfe – oder wie immer man es nennen möchte – ereignet sich sehr spontan. Ich weiß noch, dass mich das beim Schauen sehr erschreckt hat, weil ich als Zuschauerin diese Idee sozusagen nicht mit entwickelt habe. Die genannte Thematik wird auch zwischen den beiden Figuren nicht besprochen. Die Frau bittet zwar des Öfteren um Hilfe und auch darum, nicht wieder zurück ins Krankenhaus zu müssen. Aber dass es damit endet, dass er sie mit einem Kissen erstickt, um dieses Leid nicht mehr ertragen zu müssen, das hat mich damals irrsinnig überrascht.
Da ist schon eine gewisse Lücke im Hinblick darauf, wie der Mann auf diese Idee kommt und sie dann umsetzt. Und deswegen empfinde ich solche Leerstellen oftmals als beunruhigend, denn es wäre ja einfacher, wenn ich alles erklärt bekomme. Ich empfinde das aber überhaupt nicht als fehlende Qualität, im Gegenteil: Der Schock, den ich erlebe, rüttelt mich auf und lässt mich wach werden. Die Themen sind dadurch mehr in meinem Kopf, ich hinterfrage sehr viel.
Sie haben von der spezifischen Perspektive der Kamera und der damit verbundenen Intimität beim Verfolgen des Films gesprochen. Was bedeutet es für Sie als Regisseurin, sich einem Filmmaterial im Vergleich zu dramatischen oder Prosatexten anzunähern, bei dem man eine viel präsentere Visualität im Hinterkopf hat?
Es ist natürlich eine besondere Herausforderung, ein Drehbuch auf die Bühne zu bringen, da der Film mit den Bildern, die Haneke dazu erfunden hat, ja schon existiert. Eine Stärke des Theaters ist es aber gerade, den Gegensatz dazu zu suchen: Wie kann ich die bewegenden Themen des Drehbuchs, das Haneke geschrieben hat, auf der Bühne präsentieren, da der Film natürlich viel näher am Realismus dran ist, als die Theaterbühne das jemals sein kann.
Das Theater ist eine andere Art von Spiel, mit der ich nach Möglichkeiten suche, Themen – in diesem Fall auch die Krankheit der Frau und das Sterben – in eine andere Form gegenüber dem zu bringen, was im Film eins zu eins im Naturalismus belassen ist. Wie kann ich gewisse Aspekte dieses Drehbuchs in eine Bühnenrealität bringen? Das ist eine grundsätzlich andere Art der Arbeit als bei einem dramatischen Text. Wenn ich einen literarischen Text zur Grundlage habe und inszeniere, steht mehr die Sprache im Vordergrund.
Im Film gibt es viele stille Momente, viele Blicke, es werden viele Lücken in der dramatischen Erzählung gelassen – da müssen wir einen Weg finden, das auf der Bühne in einer anderen Form darzustellen. Uns geht es definitiv nicht darum, den Film eins zu eins nachzuerzählen, der ist ja in sich schon perfekt mit zwei grandiosen Schauspielern, einem hervorragenden Regisseur und einem in sich stimmigen Setting. Für mich ist die Aufgabe, die Themen, die dort erzählt werden, auf der Bühne mit anderen theatralischen Mittel darzustellen.
Sie haben sich entschieden, die Rolle der älteren Frau Anne nicht realistisch mit einer Schauspielerin zu besetzen. Wie kam es zu diesem Impuls?
Mich hat beim Lesen des Drehbuchs besonders die Charakterzeichnung des Ehemannes sehr berührt. An seiner Figur und seiner unglaublichen emotionalen und physischen Überforderung durch die plötzliche Pflegebedürftigkeit seiner Frau habe ich mich orientiert. Damit muss – und will – er umgehen, das ist ja auch, wie der Titel besagt, mit einer großen Liebe verbunden. Dadurch stößt er – stoßen generell wir alle – an schmerzliche Grenzen.
Ich glaube, da kann jeder von uns auch aus dem eigenen Leben erzählen. Man kann sofort andocken, weil die meisten von uns im engeren Familien- oder Freundeskreis schon von Menschen Abschied nehmen mussten oder auch Krankheits- bzw. Sterbeprozesse mit begleitet haben. Daraus kann eventuell sogar eine Art Fehlverhalten resultieren, eine Form von Sturheit, wie in Hanekes Film bei dem Mann, der fest davon überzeugt ist: Nur ich weiß, was meiner Frau guttut, ich weiß, wie es geht, und ich lasse auch keinen von außen ran.
Die Pflegerinnen machen es seiner Meinung nach nicht richtig, die Tochter braucht er auch nicht, weil er die einzige Bezugsperson ist, die jetzt noch seiner Frau helfen kann. Vor diesem Hintergrund habe ich darüber nachgedacht: Wie kann man diese Überforderung größer und theatraler beschreiben? Dabei empfand ich es als schlüssige Idee, die Figur der Frau in mehrere Menschen aufzusplitten – bei uns auch durch Laiendarsteller und Laiendarstellerinnen auf der Bühne, die wirklich in alltäglichen Dingen Hilfe brauchen.
Die Zerrissenheit zwischen dem Vorgang des Pflegens und Sich-Kümmerns auf der einen und den eigenen Bedürfnissen auf der anderen Seite, die Überforderung damit, der Situation gerecht werden und alles schaffen, alles gut und richtig machen zu wollen – das möchte ich gerne in der Konsequenz, in der das alles auch der Film zeigt, auf die Bühne bringen.
Der Titel des Films „Liebe“ ist ja fast schon eine Provokation – immerhin gibt es eine gewisse Diskrepanz zu der sehr kalten Welt, die man auf der Leinwand erlebt.
Dass Haneke den Film in Großbuchstaben mit „LIEBE“ übertitelt, gibt natürlich eine Blickrichtung vor. Allein dadurch interpretiert der Zuschauer das Zusammenleben der beiden und auch den Vorgang der Sterbehilfe. Der sichtbare Vorgang, bei dem der Ehemann die Frau mit einem Kissen erstickt – das „Liebe“ zu nennen, finde ich eine Provokation. Insofern kam mir schon der Gedanke, dahinter ein Fragezeichen zu setzen. Ich glaube aber, Haneke hat das wirklich schon eins zu eins so gemeint, dass die Aktion des Mannes wirklich unter dem Titel „Liebe“ zu sehen ist. Denn die Frau bittet tatsächlich mehrmals um Hilfe. Zwar in einem Zustand, in dem sie vielleicht gar nicht mehr explizit benennen kann, was ihr fehlt, was sie noch für Sehnsüchte und Wünsche hat, aber sie bittet immer wieder um Hilfe und möchte auf gar keinen Fall wieder zurück ins Krankenhaus. Die Interpretation für die Zuschauer könnte meiner Meinung nach aber durchaus offener gehalten werden. Aktive Sterbehilfe ist ohnehin ein so komplexes Thema, dass es zu einfach wäre, in Ja-Nein-Kategorien zu denken.
Zuerst erschienen am 20.05.2023 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele