„Er kann sehr vieles sagen, aber er sagt nie zu viel.“
Überlegungen zu Mozart
Wie kennzeichnen wir Mozarts Musik? — Wenn man vom Charakter eines Komponisten sprach, so meinte man am liebsten beides zugleich: den Charakter der Person und jenen der Musik. Man dachte, das eine entspräche notwendigerweise dem anderen, denn der Mensch und der Künstler seien ja ohnehin eine Gleichung. Die Musik großer Komponisten geht aber weit über das Persönliche hinaus. Wir finden da einen mysteriösen Widerspruch: Während der Mensch deutlich beschränkt ist, sind Ausdruckskraft und Meisterschaft des großen Musikers fast unbeschränkt. In seinem Werk gibt Mozart, wie Busoni gesagt hat, mit dem Rätsel die Lösung. Unter Busonis Mozart-Aphorismen finden wir auch folgende: „Er kann sehr vieles sagen, aber er sagt nie zu viel.“ Und: „Er besitzt außergewöhnlich reiche Mittel, aber er verausgabt sich nie.“ Dieses Maß an Vollendung ist gerade bei den großen Komponisten selten, denn es sind ja eher die Nachzügler, die kleineren Meister, die glätten und perfektionieren, was bei den großen an Kühnheiten und Schroffheiten vorhanden war.
Sehr schön sagt Busoni: „Unverkennbar nimmt Mozart seinen Ausgangspunkt vom Gesange aus, woraus sich die unausgesetzte melodische Gestaltung ergibt, welche durch seine Tonsätze schimmert wie die schönen weiblichen Formen durch die Falten eines leichten Gewandes.“ Mozart war ein Cantabile-Komponist. Nicht ohne Grund genießt er den Ruf, der größte Melodienerfinder neben Schubert zu sein. Dass es Zeitgenossen gab, die seine Opern zu wenig kantabel fanden, können wir heute nur staunend registrieren. Die opernhaften Züge seiner Klavierkonzerte, das Charakterisierende seiner Themen sind oft genug bemerkt worden. Mit Recht hat der Pianist András Schiff Mozarts Konzerte eine Verbindung von Oper, Symphonie, Kammermusik und Klaviermusik genannt. — Da steht ein Sänger oder eine Sängerin und singt — aber mit dem Opernhaften sind auch die Charaktere gemeint, die auf der Bühne verkörpert sind, das Agieren der Temperamente, ihr Herzblut. Wie die Sänger auf der Bühne operiert der Pianist, die Pianistin, innerhalb eines festen musikalischen Rahmens. Mozart beschreibt in seinen Briefen sein Rubato — ja, aber auf der Grundlage eines festen Rhythmus. Darüber hinaus gibt es Tempomodifikationen: Sie sollten aber dirigierbar bleiben. Ich weiß, zu Mozarts Zeiten gab es kaum noch Dirigenten im heutigen Sinn. Die Tempi müssen also strenger gewesen sein, denn man musste zusammenspielen, und es scheint selten mehr als eine Durchspielprobe gegeben zu haben, wenn überhaupt. Eine Aufführung zur Haydn- und Mozartzeit war wohl sehr verschieden von dem, was wir heute erwarten: eine ziemlich beiläufige Angelegenheit, eine Art Skizze des Werks ohne die Verfeinerung eines gut studierten Konzerts.
Cantabile braucht Kontinuität. „Ein Singer, der bey jeder kleinen Figur absetzen, Athem holen, und bald diese bald jene Note besonder vortragen wollte, würde unfehlbar jedermann zum Lachen bewegen. Die menschliche Stimme ziehet sich ganz ungezwungen von einem Tone in den andern […] Und wer weis denn nicht, daß die Singmusik allezeit das Augenmerk aller Instrumentisten seyn soll: weil man sich in allen Stücken dem Natürlichen, so viel es immer möglich ist, nähern muß?“ So steht es in Leopold Mozarts Violinschule (V 14).
Schon um 1800 hat man Mozart gern mit Raffael, einem Liebling des 19. Jahrhunderts, aber auch mit Shakespeare verglichen. Tieck und Wackenroder waren die Romantiker, die solche Vorstellungen auslösten. Der Shakespeare-Vergleich leuchtet mir im Zusammenhang mit den Da Ponte-Opern sofort ein. Dass Stendhal Mozart und Shakespeare, und dazu allerdings noch Cimarosa, bewundert hat, steht auf seinem Grabstein. Die Gleichsetzung mit Raffael hingegen zeigt mir, wie sehr sich die Wahrnehmung dieses überaus bewunderten Renaissancemalers, aber auch Mozarts, inzwischen verändert hat.
Über Raffael liest man bei Wackenroder: „Es ist eben der rechte kindliche Sinn, die ärmsten und dunkelsten Partien der menschlichen Schicksale scherzend und leicht zu betrachten, ja oft den schrecklichsten Ernst des Lebens nicht ohne ein inneres Lächeln zu begehen.“ Ein ähnliches Mozart-Bild hat lange dominiert. Es ist leicht, Vorstellungen, Ideen, Dogmen in die Welt zu setzen — wie Infektionskrankheiten breiten sie sich blitzschnell aus. Weniger leicht ist es, das Serum zu finden, das sie wieder aus der Welt schafft. Goethe und Zelter schrieben im Zusammenhang mit Haydn, Naivität und Ironie seien die Kennzeichen des Genies. Das hätte auch für Mozart seine Gültigkeit.
Es gibt Musiker, die davon überzeugt sind, dass man historisierend den Werken am nächsten kommt. Man nennt das „neu hören lernen“. Die Hörerfahrung, durch die wir gegangen sind, sei störend. Sie stelle sich wie ein Hindernis vor das Werk. Ich bin nicht bereit, so radikal zu sein. Selbst wenn es möglich wäre, ein Werk in der Aufführung ganz auf den „Originalzustand“ zurückzuführen, wäre damit die Interpretationsfrage nicht gelöst.
Das wichtigste Kriterium bleibt: Ein Stück soll beeindrucken, rühren, bewegen. Wir können und sollen nicht einfach ausschalten, was uns bisher wertvoll war. Es gibt Dinge, die ich nicht akzeptieren kann, wie vibratolos gezogene lange Noten — ein Verstoß gegen die Kantabilität — oder das vibratolose Pianissimospiel, das heute schon fast zur Routine geworden ist, offenbar weil der Spieler oder die Spielerin meint, der erzeugte Klang sei mysteriös und unheimlich. In meinen Ohren klingt non vibrato farblos, kalt und tot.
Rhythmisch wird uns das Orchester- und Ensemblespiel eher ein Modell sein als ein solistischer Vortragsstil, der den festen Boden unter den Füßen verloren hat. Leopold Mozart sagt sogar: „Der Tact macht die Melodie: folglich ist er die Seele der Musik. Er belebt nicht nur allein dieselbe; sondern er erhält auch alle Glieder derselben in ihrer Ordnung.“
Mozart war kein Blumenkind. Sein Rhythmus ist weder weichlich noch vage. Noch im kleinsten Ton ist Rückgrat. Selbst wenn Mozart träumt, bleibt sein Rhythmus wach. Mozarts Musik ist weder aus Porzellan, noch aus Marmor, noch aus Zucker. Der putzige Mozart, der parfümierte Mozart, der verzückte Mozart, der empfindsam verquollene Mozart seien ebenso gemieden wie der pausenlos poetische Mozart (man möchte kommen und die Fenster öffnen). Poesie sei die Würze, nicht das Hauptgericht. Ein Mozart, der Empfindsamkeit und frische Luft, Temperament und Kontrolle, Genauigkeit und Freiheit, Entzücken und Erschauern gleichermaßen verbindet, mag eine Utopie sein. Versuchen wir, als Interpreten, ihr nahezukommen.