13 Jul 2024

„Unsere Regisseure erschaffen Welten“

Marina Davydova

„Das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Transzendenz ist eines der zentralen Themen des Programms.“

Schauspiel-Leiterin Marina Davydova spricht über ihr künstlerisches Debüt bei den Salzburger Festspielen, die großen Themen des Programms und über die Stücke als Kompositionen.

Bevor sie das Schauspiel der Salzburger Festspiele übernahm, machte sich Davydova als künstlerische Leiterin des NET Festivals (New European Theatre) und als Leiterin des Schauspiels der Wiener Festwochen sowie als Autorin und Regisseurin international einen Namen. Bei den Salzburger Festspielen legt sie den Fokus auf einen harmonischen Mix zwischen Internationalität und dem traditionell deutschsprachigen Repertoire. Gleichzeitig ist es ihr ein Anliegen, in Zeiten schneller und herausfordernder politischer Entwicklungen den Blick zu weiten und auf die großen Themen des Menschseins zu richten.

Gibt es ein übergreifendes Thema im Schauspielprogramm? Einen roten Faden?

Da ich die Leitung des Schauspiels im Kontext so grauenvoller historischer Ereignisse übernommen habe – die auch mein Leben berührten –, wollte ich zunächst den Fokus auf politische Entwicklungen legen. Aber sehr schnell war klar: Eine Veranstaltung wie die Salzburger Festspiele, mit einer so langen Vorlaufzeit, kann mit dieser sich so schnell verändernden Realität nicht Schritt halten. Deshalb habe ich mich entschieden, mich auf universellere Themen zu konzentrieren – nennen wir es die ewigen Fragen des Seins. Seit ich begonnen habe, das Programm zu konzipieren, ist der Krieg in Gaza ausgebrochen, der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan und noch andere. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und, wenn man so will, der Transzendenz ist eines der zentralen Themen des Programms. Nicolas Stemann nimmt das in der „Orestie“ auf – das Verhältnis zwischen dem Menschen und den Göttern. Er verwendet für seine Textfassung nicht nur Aischylos, sondern auch Sophokles und Euripides, bei denen die Götter sehr unterschiedlich dargestellt werden. Krystian Lupa, für mich einer der größten Philosophen unter den Regisseuren unserer Zeit, setzt sich mit dem Menschsein an sich, mit dem Sinn und der Sinnsuche auseinander. Ein anderer wichtiger Aspekt ist das Wechselspiel zwischen dem Menschen und der Geschichte. Der erste Programmpunkt sind Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“, ein sehr historisch orientiertes Stück. Und Thom Luz ist ein Regisseur, der das Buch nicht einfach so auf die Bühne überträgt – vielmehr wird es eine Symphonie von Klängen und Bildern; Requisiten und Bühnenbild werden eigene Rollen spielen. Am wichtigsten aber ist, dass er die Biografie von Stefan Zweig in das Stück integriert – und über seine Geschichte auch die des 20. Jahrhunderts.

Der Krieg und seine Wirkung auf den Menschen sind aber doch immer wieder Thema: Agamemnon tötet seine Tochter, um in den Krieg ziehen zu können, und setzt damit die „Orestie“ letztlich in Gang. „Der Zauberberg“ spielt am Abend des Ersten Weltkrieges. Die „Sternstunden der Menschheit“ thematisieren auch Waterloo, der Autor selbst wird vom Zweiten Weltkrieg so sehr entwurzelt, dass er sich schließlich das Leben nimmt.

Es gibt auch Stücke, auf die das nicht zutrifft – etwa die „Spiegelneuronen“ oder Alexander Ekmans „Mittsommernachtstraum“ – aber ja, Sie haben recht. Das war keine Vorgabe von mir. Aber natürlich ist es auch kein Zufall – talentierte Künstler sind sehr aufmerksam und feinfühlig gegenüber dem, was um sie herum passiert. Als wir also begonnen haben, mögliche Stücke zu diskutieren, haben viele von ihnen Stoffe gewählt, die mit Krieg zu tun haben.

Heiner Goebbels’ „Everything that happened and would happen“ wird als „multidisziplinäre Performance“ beschrieben. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?

Heiner hat dafür mehrere Inspirationsquellen. Eine davon ist ein sehr interessantes – und übrigens auch witziges – Buch des tschechischen Autors und Geschichtsforschers Patrik Ouředník, „Europeana – Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“. Darin beschreibt er nicht nur die großen Entwicklungen – die Erfindung der Füllfeder wird darin ebenso behandelt wie der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Also die Performance basiert auf einem Geschichtsbuch. Gleichzeitig lässt sich Heiner von den Werken von John Cage inspirieren. Was die Performance für mich so außergewöhnlich macht, ist aber der Live-Stream von Euronews. Während wir die verschiedenen komplexen musikalischen und kinetischen Kompositionen verfolgen, sehen wir gleichzeitig, unkommentiert, den Live-Nachrichtenbroadcast. Was auf der Bühne passiert, wird in jeder Aufführung eine neue Bedeutung haben, denn es findet in  einem anderen Nachrichten-Kontext statt.

Sprechen wir über die „Vergessenen Stücke“ – wie entstand diese Idee?

Auf der einen Seite wurde ich gebeten und hatte auch die Idee, das Programm stark international zu gestalten – davor war das Schauspiel stark auf das deutschsprachige Theater fokussiert. Auf der anderen Seite war aber der Wunsch da, deutschsprachigen Werken einen Platz einzuräumen. Ich wollte beiden Erwartungen gerecht werden. Also beschloss ich, dass wir etwas bringen sollten, das nicht nur deutsch, sondern wirklich österreichisch ist. Wir trafen uns mit Simon Strauß und er hatte die Idee, ein Event zu machen, das sich den vergessenen Texten und Stücken widmet. Wir begannen also zu diskutieren, was das eigentlich heißt: „vergessen“? Was wird einfach nur vergessen und was wird abgelehnt oder zurückgewiesen? Ist Zensur nur politische Zensur oder kann sie auch vom Publikum kommen? Die Inszenierung selbst wird eine sehr spezielle Kombination aus Lesungen, Ausstellungen, Diskussionen und musikalischen Teilen – generell sehr immersiv. Wir werden viele wichtige Aspekte und Probleme anschneiden, vielleicht sogar gemeinsam mit dem Publikum, denn es wird Diskussionen geben. Und ich glaube, es wird auch die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen. Insgesamt wird das  ein sehr spannender zweitägiger Marathon.

Kommen wir noch einmal auf die „Sternstunden“ zurück: Darin beschreibt Stefan Zweig 14 verschiedene historische Momente – wie trifft man hier eine Auswahl für die Bühne?

Welche der Miniaturen Thom Luz letztlich verwendet, das weiß ich nicht – das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass der Protagonist der Performance Stefan Zweig selbst ist. Thom ist kein klassischer Erzähler – er verwendet Zweigs Werke als Inspiration. Er kreiert eine spezielle und komplizierte Welt aus all den Geschichten, die auf der Bühne koexistieren werden, und macht daraus seine ganz eigene Komposition. Generell muss ich sagen, dass unsere Regisseure sehr  schöpferisch sind, sie erschaffen ihre ganz eigenen Welten.

Barbara Wallner
Zuerst erschienen am 11.05.2024 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele

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