Vertraut und unbekannt, alt und neu
Sandwich-Programm nach Maurizio Pollini: Radikale Moderne zwischen Chopin und Debussy
Klingende Spurensuchen zwischen Moderne und Klassik: Liederabende und Solistenkonzerte, die inspirieren, begeistern, irritieren.
Da ist einmal Maurizio Pollini. 80 Jahre ist er alt und seit einem halben Jahrhundert musiziert er bei den Salzburger Festspielen. Die Sommer, in denen er nicht im Festspielhaus aufgetreten ist, kann man an einer Hand abzählen. Pollini war und ist ein Fixstarter im Salzburger Programm. Zumindest ein Solo-Recital hat er fast jedes Jahr gegeben, oft hat er spezielle Programme mit Freunden realisiert, die fast immer etwas mit der Einbindung Neuer Musik ins Repertoire zu tun hatten. Das hat Pollini immer interessiert. Den freundlichen Abendunterhalter zu mimen, der vor oder gegebenenfalls auch nach dem Diner melancholische Chopin-Nocturnes zum Besten gibt, das passte nie ins Selbstbild dieses Künstlers. Bezeichnend schon das Programm seines ersten Salzburger Soloabends, 1973, das zwar Schubert und Beethoven enthielt, doch gleich mit der großen A-Dur-Sonate Franz Schuberts anhob, deren langsamer Satz mit seinen Ecken, Kanten und jähen Brüchen zum Verstörendsten gehört, was vor der „echten“ musikalischen Moderne je komponiert wurde.
Kein Träumen von Idyllen. Mit falschen Schablonen wollte Pollini aufräumen. Wer sich im Konzertsaal in eine Biedermeieridylle zurückträumen wollte, die so ohnehin nie existiert hat, war bei ihm an der falschen Adresse. Schon 1974 nahm Pollini, eine Woche, nachdem er unter Herbert von Karajans Leitung das Schumann-Konzert musiziert hatte, neben Beethoven auch sämtliche Klavierwerke Arnold Schönbergs ins Programm. Wer die „Sturm“-Sonate und die „Waldstein“-Sonate im zweiten Teil hören wollte, musste da durch, atonale Aphoristik und zwölftönige neobarocke Formstudien inbegriffen.
Dennoch – oder vielleicht sogar: Deshalb liebte das Festspielpublikum Pollini vom ersten Moment an und sorgte dafür, dass seine Abende stets bereits kurz nach Vorliegen des Festspielprogramms ausverkauft waren. Manchmal gab es dann sogar reine Klassiker- oder Romantikerabende, was, wie wir im Falle Schuberts gesehen haben, ohnehin verwirrend genug ausgehen konnte. Manchmal aber auch schwere und schwerste Kost aus unseren Tagen, etwa die ausgiebige Zweite Klaviersonate von Pierre Boulez, deren Aufführung eine gute halbe Stunde dauert. Immer wieder auch Stücke von Luigi Nono, dessen musikalische und politische Aktivitäten Pollini im Verein mit seinem Dirigentenpartner Claudio Abbado tatkräftig unterstützte. Da konnte es vorkommen, dass Pollini ein Stück, das er in ein typisches „Sandwich-Programm“ eingebaut hatte, nach dem Motto: Radikale Moderne zwischen Chopin und Debussy, die längst überstanden geglaubte Dissonanzübung von vor der Pause als Dank für den lauten Applaus des Publikums am Ende des Konzerts als Zugabe wiederholte.
Die Saat, die Maurizio Pollini dieserart ausgesät hat, ist aufgegangen. Wer die Entwicklung der Konzertprogramme der Salzburger Festspiele in der jüngsten Vergangenheit Revue passieren lässt, erkennt leicht, dass ein Großteil der zeitgenössischen Interpreten ganz selbstverständlich eben jene Mixtur aus Vertrautem und Unbekanntem, aus Altem und Neuem pflegt, wie Pollini sie vor Jahrzehnten bereits vorgegeben hat. Er selbst kann sich nun darauf beschränken, zwei Beethoven-Sonaten anzusetzen. Dank seiner Initiativen weiß das Salzburger Publikum längst, dass auch in der „Hammerklaviersonate“ genügend aufwühlend Irritierendes steckt (21. August).
Solisten samt Schwerpunkten. Es passt längst ins Festspielkonzept, dass sich Solistenkonzerte nahtlos in übergeordnete Konzepte wie dem Bartók-Schwerpunkt dieses Sommers fügen: wenn Pierre-Laurent Aimard unter diesem Siegel den Pfaden der ungarischen Klaviermusik von Liszt bis Ligeti nachspürt (29. Juli) oder Patricia Kopatchinskaja und Fazil Say (am 14. August) die verschiedenen Ausprägungen der musikalischen Moderne jenseits der Schönbergschule zwischen Paris, Budapest und Brünn mit Werken von Ravel, Bartók und Janáček erforschen. Auch Yefim Bronfmans Konfrontation zweier großer Bartók-Stücke mit Beethovens „Appassionata“ und Chopins H-Moll-Sonate (10. August) gehört in die Kategorie der von Pollini einst angestoßenen klingenden Spurensuche.
Geradezu traditionell nimmt sich dagegen etwa schon das Programm Evgeny Kissins aus, der am 5. August Bach, Mozart, Beethoven und Chopin spielen wird, freilich, auch da stecken die Überraschungen vielleicht für viele Hörer dort, wo sie am wenigsten welche vermuten würden, im Adagio in h-Moll (KV 540) von Mozart etwa, das den Hörer auf eine Expedition in ein schier undurchdringliches harmonisches Labyrinth voll dissonanter Dornen mitnimmt, als wäre anno 1788 Wagners „Tristan“-Klangwelt nur noch eine Abzweigung weit entfernt gewesen.
Diesem Geheimnis der sogenannten musikalischen Romantik spürt auch Grigory Sokolov mit seinen vielgliedrigen Programmfolgen gern nach. In seinem Programm (am 6. August) stehen diesmal Robert Schumanns „Kreisleriana“ fest, für sich genommen schon rätselhaft mehrdeutig und voller doppelter Böden, außerdem Stücke von Beethoven und Brahms. Was er hinzufügen wird, wie gewohnt, in einem langen Zugabenteil ohne Vorankündigung, bleibt abzuwarten. Auch das eine Facette in einem Festspielbetrieb, die früher kaum denkbar gewesen wäre.
Populäres, Pittoreskes, Prinzipielles. Arcadi Volodos weiß hingegen schon, was er in Salzburg (am 13. August) Solowerken von Schumann (den „Kinderszenen“ und der C-Dur-Fantasie) entgegensetzen wird: Er hat für den ersten Teil des Abends Franz Schuberts „Gasteiner“-Sonate (D-Dur, D 850) gewählt, ein Werk, das es erst in der jüngeren Interpretationsgeschichte auf die großen Podien geschafft hat. Die Pianisten des Virtuosenzeitalters waren ja noch der Überzeugung, die Klaviermusik Schuberts sei gerade noch tauglich „für die kleinen Mädchen am Konservatorium“ (A. Skrjabin). Mit klug gewähltem Programm bei den Salzburger Festspielen können Interpreten, deren Auftritte jedenfalls für volle Säle garantieren, allerhand zur Beseitigung solcher, sagen wir: Missverständnisse beitragen. Umgekehrt darf dann auch Populäres nach seiner Brauchbarkeit im ernsthaften Kontext hinterfragt werden. Nur weil etwa Friedrich Smetanas „Moldau“, berühmtester Teil des Zyklus „Mein Vaterland“, stets eine veritable Wunschkonzertnummer war, sollte der wahrhaft symphonische Gehalt dieser Musik nicht gering geschätzt werden: Smetanas Kunstfertigkeit, ganz getreu dem Prinzip eines Franz Liszt, das aus minimalen motivischen Keimzellen maximale klangliche Vielfalt zu generieren weiß, lässt uns hören, wie sich ein Fluss von der Quelle in stetigem Crescendo zum breiten Strom entwickelt.
Das ist ein pittoreskes Vergnügen, gewiss, aber es ist auch eine musikalisch-architektonische Meisterleistung. In diesem Sinne wird man dem Duo-Abend der Pianisten András Schiff und Evgeny Kissin (am 9. August) mit intellektuellem Vergnügen lauschen, wenn die vierhändige Fassung der „Moldau“, die originalen „Slawischen Tänze“ Antonín Dvořáks und Werke wie Schumanns „Andante mit Variationen“ und Mozarts große Sonate für zwei Klaviere einträchtig nebeneinander stehen, vier völlig unterschiedliche Zugänge zur musikalischen Formbeherrschung.
Vollendet, jeder für sich. Wie die programmatisch inspirierten Vignetten, die Schumann zu seinem Zyklus „Waldszenen“ gefügt hat: Igor Levit, jüngster im Reigen der Salzburger Publikumslieblinge, vereint ihn mit Musik von Wagner (Vorspiel zu „Tristan und Isolde“) und Franz Liszts H-Moll-Sonate zum letzten Solistenkonzert dieses Sommers (24. August), das mit Bartóks „Im Freien“ eröffnet wird, einer Reihe von teils kraftvoll-perkussiven Klavierstücken, die zu Zeiten das Publikum kräftig vor den Kopf stießen. Sie erklangen bei den Festspielen übrigens zum ersten Mal, als Igor Levit noch gar nicht geboren war, 1981, gespielt von Maurizio Pollini . . .
von Wilhelm Sinkovicz
Zuerst erschienen am 25.07.2022 in Die Presse Kultur Spezial: Salzburger Festspiele