Wer zählt die Werke, nennt die Namen?
Warum musikalische Werke klingende Titel tragen
Riccardo Muti, Martha Argerich, Igor Levit, Anne-Sophie Mutter, Christiane Karg und viele andere machen die Festspielkonzerte wieder zum Ereignis. In den Programmen der Wiener Philharmoniker und der Gastorchester tragen aber auch viele große Werke klingende Namen.
Jupiter-Symphonie, Pastorale, Also sprach Zarathustra: Warum musikalische Werke solch klingende Titel tragen? Weil ihre Schöpfer sie damit überschrieben haben, könnte man meinen – und läge damit doch in etlichen Fällen falsch. Richtiger ist hingegen, dass es zumeist ein Zeichen besonderer Popularität ist, wenn eine Komposition eine eindeutige und im wahrsten Sinne klingende Bezeichnung trägt, die manchen schon seit Jahrhunderten anhaftet. Sobald sich ein Kanon herausbildet, eine Art Bibliothek von Werken, auf die die Musikkultur immer wieder gerne zurückgreift, helfen Titel und Beinamen. Bei Wolfgang Amadeus Mozarts Symphonien zum Beispiel machen Ortsangaben wie „Linzer“ oder „Prager“ Werke greifbar. Nie wirklich eingebürgert haben sich hingegen Begriffe wie „Wörthersee-Symphonie“ für Brahms’ Zweite und „Englische“ für Antonín Dvořák Achte: Das West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim (17. August) sowie die Wiener Philharmoniker unter Jakub Hrůša (29. August) spielen sie in Salzburg denn auch ohne solches Etikett.
Hartnäckig hält sich hingegen der völlig fiktive Beiname „Jupiter“ für Mozarts letzte Symphonie KV 551: Er dürfte auf Johann Peter Salomon zurückgehen, der als Konzertveranstalter auch für die Entstehung von Joseph Haydns zwölf „Londoner Symphonien“ verantwortlich ist. Jupiter macht sich zweifellos gut in Ankündigungen, lässt an Glanz und Erhabenheit denken – und auch an geschleuderte Blitze, die man im viertönigen Choralthema der Schlussfuge repräsentiert finden könnte. Mit Mozart hat das freilich nichts zu tun – und wenn wir schon auf dem Olymp nach Paten suchen, dann würde eher der doppelgesichtige Janus zu dieser Musik voll widerstreitender Kräfte und ihrem souveränen Ausgleich passen, wie François-Xavier Roth und sein Originalklangensemble Les Siècles hörbar machen werden (2. August).
Bei Ludwig van Beethovens Sechster begegnet uns im diesjährigen Festspielprogramm erstmals ein programmatischer Titel: „Sinfonia caracteristica“ und „Sinfonia pastorella“ hieß das Werk in Skizzen, „Erinnerung an das Landleben“ war es bei der Uraufführung überschrieben, bei der Drucklegung schließlich „Sinfonie Pastorale“. Musikalische Naturschilderungen waren schon lange zuvor populär, doch verwehrte sich Beethoven gegen rein äußerliche Nachahmung mit dem Hinweis: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“. Jordi Savall spürt in seinen zwei Beethoven-Abenden (7./9. August) mit Le Concert des Nations diesem evolutionären Gegenentwurf zur revolutionären Fünften nach, der sogenannten „Schicksalssymphonie“ – ein Begriff, der in einer umstrittenen Überlieferung von Beethovens Adlatus Anton Schindler wurzelt. Aber laut Goethe stammt von Napoleon der Ausruf: „Die Politik ist das Schicksal!“ Insofern spielt der raue Weg zum republikanischen Jubelfinale der Fünften mit der großen Dritten zusammen, die jeden bislang geltenden Rahmen sprengte und auf Napoleon gemünzt gewesen sein könnte oder aber auf den Prometheus-Mythos: Der Beiname „Sinfonia eroica“ stammt nicht einmal zweifelsfrei von Beethoven, dürfte aber einen tragischen, gefallenen, zwiespältigen Helden meinen.
Mit der Programmmusik, der Schilderung außermusikalischer Zustände und Vorgänge, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Musikrichtung entwickelte, kommen speziell ab Ende dieses Jahrhunderts auch literarische Werke und deren Charaktere auf die Konzertbühne.
Beispiele aus dem Ballett sind Igor Strawinskys Petruschka, der russische Kasperl, der auf dem Jahrmarkt Abenteuer zu bestehen hat, durch die ihn Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra begleiten (31. August), oder das berühmteste Liebespaar überhaupt, Romeo und Julia: Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien und Elim Chan werfen Schlaglichter auf die Musik Sergej Prokofjews (12. August).
Die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst hingegen stellen die Musik zweier Klangzauberer einander gegenüber (20./21. August): Richard Strauss und György Ligeti, der 2023 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Also sprach Zarathustra, das packende Ergebnis von Strauss’ früher Nietzsche-Lektüre, und seine späten, wehmütigen, auf Goethe bezogenen Metamorphosen mit ihrem Abschied von der Welt, besiegelt von einem Zitat aus dem Trauermarsch der Eroica, treffen auf Werke, die zu ihrer Zeit ähnlich Aufsehen erregten wie die Kühnheiten des jungen Strauss: Ligetis Atmosphères und Lontano, die übrigens der Kultregisseur Stanley Kubrick in verschiedenen Filmen ebenso eingesetzt hat wie etwa den Beginn des Strauss’schen Zarathustra. Sie sind mit ihren schillernd verschwimmenden oder dramatisch aufeinanderprallenden Klangflächen längst moderne Klassiker geworden. Für poetische Titel hatte Strauss ohnehin ein Faible: Seine symphonische Dichtung Ein Heldenleben wurde und wird ihm zum Teil bis heute als ungehörige Selbstbeweihräucherung ausgelegt, als Großmannssucht eines 35-Jährigen, der sich in pompös-bedeutungsvollem Es-Dur – analog zur Eroica – als musikalischer Heros der heldengläubigen Wilhelminischen Epoche inszeniere. Das Werk besitzt jedoch durchaus ironische Brechungen und weit übers Persönliche hinausweisende Seiten: Musik ist, selbst und gerade bei enthüllten programmatischen Bezügen, immer noch mehr und anderes als das, was Worte zu sagen vermögen. Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker stehen dafür ein (27. August).
Poetisch-tragisch ist auch der Untertitel von Alban Bergs Violinkonzert – „Dem Andenken eines Engels“ –, einem Werk von besonderer Aura, weil es ein doppeltes Requiem darstellt: programmatisch für Alma Mahlers Tochter Manon Gropius, die 18-jährig der Kinderlähmung erlag, und für Berg selbst, der noch im Jahr der Entstehung des Violinkonzerts, 1935, nur vier Monate
nach Vollendung der Partitur starb. Der Geiger Augustin Hadelich und die Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons bringen dieses musikalische Denkmal zum Klingen (5./6. August). Apropos Requiem: Nicht die lateinische Totenmesse, sondern frei zusammengestellte Texte aus der Lutherbibel legte Johannes Brahms seinem Werk Ein deutsches Requiem zugrunde, das den Lebenden zum Trost gereichen soll. Christian Thielemann, die Wiener Philharmoniker, der Wiener Singverein sowie Michael Volle und Elsa Dreisig sind darin zu erleben (28./30. Juli). Und durch Sergej Rachmaninows Symphonische Tänze (12. August), auch das ein letztes Werk, geistert ein Motiv, das ihn sein Komponistenleben lang begleitet hat: das Dies irae aus dem Requiem, ein schicksalshaft anmutendes Choralfragment, Symbol für die Schrecken des Jüngsten Gerichts – unnennbar, namenlos.
Autor: Walter Weidringer
zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2023