Opernproduktionen 2024
„Mitleid ist das einzige Daseinsgesetz der Menschheit“ – dieser Satz aus Dostojewskis Roman Der Idiot wird in Weinbergs Oper zum Dreh- und Angelpunkt.
Zwei Weltkriege, Millionen von Menschen auf den Schlachtfeldern und in den Vernichtungslagern ermordet. Die Welt, ein einziger kalter Krieg der Ideologien. Vor diesem Hintergrund formuliert Albert Camus 1951 in seinem Essayband Der Mensch in der Revolte die Idee einer idealen, einer solidarischen Revolte im Namen der Menschlichkeit: „Ich revoltiere, also sind wir.“
Die Protagonisten der Opern im kommenden Festspielsommer tragen allesamt den Gedanken der Revolte in sich. Sie alle folgen einem anderen Regelwerk, anderen Prinzipien als jenen einer Gesellschaft, der sie nur als Außenseiter angehören, in die sie sich nicht eingliedern lassen, der sie ihre Funktionstüchtigkeit verweigern. Dostojewskis „Spieler“ in der gleichnamigen Oper von Sergej Prokofjew ist eine solche Figur, obsessiv und ausgeliefert, am Rande der Gesellschaft. Er ist einer der typischen Dostojewski schen Helden oder auch Antihelden, die so dringlich nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn der Existenz fragen, dass die Lösungen nur extrem sein können. Die Rotationsbewegung im Roulette wird zur Fallbewegung und bezeichnet damit das Entscheidende: das Scheitern. Die Metapher vom Spieler, der sich und alles um ihn herum in einen Strudel des Verderbens und der Auslöschung reißt, wird zur Metapher, zum Sinnbild unserer heutigen Welt.
Die Figur des „Idioten“ meint, wie im ursprünglichen Sinn des Wortes, jemanden, der nicht der Polis zugehörig ist, der außerhalb der Gesellschaft steht, der sich dieser – in unserem Fall korrupten – Gesellschaft verweigert. „Mitleid ist das einzige Daseinsgesetz der Menschheit“ – dieser Satz aus Dostojewskis Roman Der Idiot wird in Weinbergs Oper zum Dreh- und Angelpunkt. Mit der Figur des Fürsten Myschkin wird nicht mehr und nicht weniger als die Utopie eines „wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen“ gezeichnet, eines Menschen voll der Empathie und des Mitgefühls. Eigenschaften, die ebenso den Herrscher in Mozarts La clemenza di Tito auszeichnen – auch dieses Wunderwerk wird im kommenden Sommer zu erleben sein.
Und schließlich Don Giovanni und Hoffmann. Der eine, Giovanni, irrlichtert wie ein verlorener Fremdkörper durch die Welt, seine Triebfeder ist der Exzess, seine Moral ist nicht die der Norm, sie ist einzig auf Intensität ausgerichtet. Hoffmann hingegen ist unendlich passiver, er ist ein Schwärmer der Liebe, ein enthusiastischer Reisender, gefangen in einer Art Delirium, einer Projektion, sein Innerstes zerrissen.
Den Siedepunkten des Empfindens, der elementaren Schönheit des Maßlosen, der Ekstase der Existenz, all dem wollen wir, ganz im Sinne Stefan Zweigs, im Sommer nachspüren: Ohne die „großen Überschreiter alles Maßes, wüßte die Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis“.
Markus Hinterhäuser • Intendant
zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2024