Zur Produktion: Der Idiot
„Weinberg ist zu einer echten Lebensleidenschaft geworden.“
Ein nach Russland heimgekehrter Fürst, der als „Idiot“ verspottet wird, weil er in einer brutalen und verlogenen Gesellschaft an das Gute in den Menschen glaubt und jedem mit Arglosigkeit, Mitleid und Liebe begegnet; ein junger Hauslehrer in „Roulettenburg“, dem das Geld und dessen Vermehrung zum fatalen Lebenszweck wird: Zwei Figuren aus dem Kosmos Dostojewskis – ein still aufbegehrender und ein rastlos getriebener Mensch, die beide den Nerv unserer Zeit treffen – sind im Festspielsommer 2024 in eindrucksvollen Romanvertonungen von Mieczysław Weinberg und Sergej Prokofjew zu erleben. Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla sowie der Regisseur Peter Sellars beleuchten in Interviews ihren Zugang zu Weinberg, Prokofjew – und Dostojewski.
Trotz seines umfangreichen Œuvres ist der 1996 verstorbene polnisch-russische Komponist Mieczysław Weinberg erst in jüngster Zeit ins Bewusstsein eines breiteren Publikums getreten. Dazu haben Sie, Mirga Gražinytė-Tyla, maßgeblich beigetragen: Immer wieder haben Sie Werke von Weinberg auf Ihre Konzertprogramme gesetzt und auch eingespielt, nicht zuletzt für Ihr gefeiertes Debütalbum bei der Deutschen Grammophon. Nach Die Passagierin dirigieren Sie mit der Dostojewski-Oper Der Idiot nun ein weiteres Bühnenwerk des Komponisten. Wie sind Sie zur Weinberg- Wiederentdeckerin geworden?
Es war Gidon Kremer, der mich auf Weinberg aufmerksam gemacht hat, konkret auf die Kammersymphonien, die wie Der Idiot im letzten Lebensjahrzehnt des Komponisten entstanden sind. Schon diese ersten Stücke, die ich von ihm studiert und aufgeführt habe, empfand ich als ungemein faszinierend – und wie eine Einladung, hier „weiterzugraben“. Im Laufe der folgenden zwei, drei Jahre wurde mir klar, was für eine unfassbare Menge an fantastischer Musik Weinberg hinterlassen hat. Bei jedem neuen Werk, das ich von ihm erarbeitete, hatte ich danach das Gefühl: Ich muss unbedingt zu Weinberg zurück. Mittlerweile ist er zu einer echten Lebensleidenschaft geworden.
Wie lässt sich Der Idiot, die letzte von Weinbergs sechs Opern, charakterisieren?
Der Idiot ist ein riesiges Werk, bei dem es dem Publikum wahrscheinlich ähnlich ergeht wie bei der Lektüre von Dostojewskis großen Romanen: Während der ersten fünfzig oder hundert Seiten versucht man, sich in der Fülle von Namen, Orten und Ereignissen zurechtzufinden; die Erzählstränge werden aber immer enger miteinander verknüpft, und nach dieser hundertsten Seite entwickelt die Geschichte einen derartigen Sog, dass man überhaupt nicht mehr aufhören kann zu lesen.
Weinbergs Idiot beginnt mit einem kurzen, eindringlichen Motiv im dreifachen Forte, das ich als Verzweiflungsmotiv verstehe und das später immer wieder auftaucht. Grundsätzlich begegnen wir in der motivischen Arbeit vielen Wagner’schen Ideen, an Richard Strauss wiederum erinnert Weinbergs Tendenz, wenig zu wiederholen: Die Musik entwickelt sich ständig weiter, und in diesem Sinne ist die Oper tatsächlich romanartig. Am Anfang werden die verschiedenen Charaktere und Motive vorgestellt, wir hören zu und versuchen zu erfassen, wie das alles zusammenhängt. Und je weiter die Handlung fortschreitet, desto intensiver fühlen wir uns in sie hineingezogen.
Schon die Vorbereitungen auf unsere Produktion sind für mich beglückend und bereichernd, zugleich ist mir bewusst, dass es eine große Herausforderung darstellen wird, diese Fülle an Text, an Motiven und Charakteren gut zu einem Ganzen zu verbinden. Aber ich denke, es wird so sein wie bei anderen Werken von Weinberg: Zunächst gilt es, die „Materie“ zu bewältigen, denn vieles ist auch virtuos – das ist mitunter der Grund, warum Weinberg nicht, oder besser gesagt: noch nicht, in einem Atemzug mit Schostakowitsch und Prokofjew genannt wird; ist man aber einmal mit dem Technischen durch, dann öffnet sich eine unglaublich persönliche Welt.
Sie haben eben Schostakowitsch erwähnt, der sich zeitlebens für Weinberg und seine Werke eingesetzt hat. Bestehen zwischen Schostakowitsch, dessen Andenken Der Idiot gewidmet ist, und Weinberg musikalische Verwandtschaften?
So gut wie im gesamten Œuvre Weinbergs gibt es sehr viel Schostakowitsch-Einfluss. Als junger Mann, noch in Warschau, war Weinberg zunächst vom Impressionismus begeistert. Auf der Flucht vor den Nazis kam er dann nach Minsk, wo er studierte und 1940 in einer Hochschulaufführung von Schostakowitschs Fünfter Symphonie mitwirkte – er spielte die Stimmen von Celesta und Harfe am Klavier. Diese erste Berührung mit Schostakowitsch war wie ein Initialerlebnis. Von da an lag für ihn die Zukunft der Musik in dieser Richtung. Später wurden Weinberg und Schostakowitsch Freunde, zeigten sich gegenseitig ihre neuen Kompositionen und spielten regelmäßig vierhändig Klavier. Vieles von Schostakowitschs Stil, von seiner Komplexität, Polyphonie, Harmonik und Orchestrierung ist bei Weinberg zu finden. Umgekehrt hat aber auch Weinberg den älteren Komponisten beeinflusst, etwa im Hinblick auf die Verwendung von Elementen jüdischer Folklore.
Vor dem Hintergrund dessen, was ich weiß und bislang an Werken der beiden kennenlernen durfte, würde ich sagen, dass Weinberg insgesamt der Stillere, Schüchternere, vielleicht Demütigere war. Groteske oder satirische Töne kommen bei ihm selten bis kaum vor. Übrigens kann ich mir gut vorstellen, dass Weinberg seinem „Idioten“, dem Fürsten Myschkin, Züge seines Freundes Dmitri verliehen hat. Genauso aber dürfte Weinbergs eigene Persönlichkeit in die Gestaltung dieser geheimnisvollen Figur eingegangen sein. Viele der Weisheiten, die uns Myschkin das ganze Stück hindurch beschert, müssen mit Weinbergs Charakter stark im Einklang gestanden haben – etwa der Gedanke, dass die Schönheit nicht tot ist, sondern vielleicht nur nicht in der Gunst der Gegenwart steht.
Das Gespräch führte Christian Arseni.
Zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten