Zur Produktion: Der Zauberberg
Krystian Lupa gilt zweifellos als der bedeutendste und einflussreichste polnische Theatermacher unserer Zeit. Bei den Salzburger Festspielen inszeniert er erstmals im kommenden Sommer und dramatisiert Thomas Manns Der Zauberberg. Über Krystian Lupa und sein Theater des kollektiven Träumens.
Es lässt sich kaum leugnen, dass Krystian Lupa eine überaus ausgeprägte, leicht identifizierbare künstlerische Handschrift hat. Betritt man sein Theater, taucht man in ein traumartiges Universum, das demonstrativ isoliert dasteht – „au-delà“. Seine Aufführungen sind ausufernd, bedächtig, hypnotisch; in klaustrophobischen Zimmern, die wie Schutzräume anmuten und mit Möbeln im Farbton verblasster Fotografien vollgestopft sind, sitzen Menschen, die lange Dialoge und Monologe führen und dabei einen Raum des kollektiven Träumens, einen Bereich von Fantasievorstellungen, Erinnerungen und Halluzinationen betreten.
Der 1943 geborene Regisseur, Bühnenbildner, Grafiker und Schriftsteller ist seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn von der Idee der Utopie fasziniert. Bei seinem Debüt in den 1970er-Jahren gründete er mit einer Gruppe befreundeter Schauspieler im provinziellen Jelenia Góra (Hirschberg) eine Art Post-Hippie-Kommune. Er inszenierte damals vor allem Texte des polnischen Avantgardisten Witkacy, die er mittels der Schriften seines spirituellen Meisters Carl Gustav Jung interpretierte. Lupas Theater war von allem Anfang an eine Art Laboratorium, in dem die Schauspieler·innen im Zuge monatelanger Arbeit in die Tiefen ihres Unbewussten, ihrer Träume, Wünsche und Ängste hinabsteigen, wo man hinter die verborgenste Schicht von Träumen blickt, um zum Wesen der Existenz vorzudringen.
Der Regisseur interessiert sich für herausragende, hochsensitive Individuen, scheinbar Verrückte, die nach Grenzüberschreitungen streben: sei es durch die Ausübung von Kunst oder durch religiöse, erotische oder drogeninduzierte Ekstase. Kein Wunder, dass Lupa oft als einer der letzten großen mitteleuropäischen Modernisten bezeichnet wird – und er distanziert sich keineswegs von diesem Etikett. Zu seinem literarischen Kanon gehören Robert Musil, Thomas Bernhard, Hermann Broch und Fjodor Dostojewski; zu seinen Lieblingsregisseuren zählt er Andrej Tarkowski, Ingmar Bergman und Bernardo Bertolucci. Demnach lässt er sich von Werken inspirieren, die sich mit den komplexesten philosophischen, religiösen und existenziellen Problemen auseinandersetzen. Von Werken also, die darauf ausgerichtet sind, das Wesen der europäischen Geschichte und Kultur zu erfassen, zu einer Reflexion über die Mechanismen des Gedächtnisses zu animieren und die Eigenart zwischenmenschlicher Beziehungen zu begreifen.
Obwohl sich Lupa auf die Transformationsprozesse des Individuums konzentriert, interessieren ihn auch Gemeinschaften, die Zeiten gewaltsamer Veränderungen, Krisen bestehender Werte und die Implementierung neuer Regeln durchleben. Sowie Wendepunkte in der Kunst – auch in seiner eigenen. Etwa alle zehn Jahre versucht Lupa, das bestehende Modell seines Theaters zu demontieren und neu zu erfinden. Er will kein Denkmal werden, das Etikett des Meisters ärgert ihn.
Seine erste bahnbrechende Theaterproduktion war Kalkwerk nach Thomas Bernhard im Jahr 1992: Anstelle eines amorphen Bühnenexperiments präsentierte er damals ein diszipliniertes, intimes und zugleich erschütterndes Meisterwerk der Schauspielkunst. Im Jahr 2001 schockierte er mit seiner Adaption von Auslöschung (ebenfalls nach Bernhard), indem er die bis dahin verschwiegene Frage der Beteiligung der Polen an der Judenvernichtung mutig ansprach. Mit den Premieren der biografischen Fantasien Factory 2 (über Andy Warhol) und Persona. Marilyn hielt in den Jahren 2008/2009 Multimedia Einzug in sein Theater, und eine komplexe Beschäftigung mit der Popkultur bemächtigte sich der Bühne. Mit der Inszenierung von Capri – Insel der Flüchtlinge nach Curzio Malaparte bot er dem Publikum 2019 eine offene Performance, in der er persönlich und unverblümt die aktuelle politische Realität in Polen durch ein Mikrofon kommentierte.
Diese Fähigkeit, das Publikum in ein Gespräch über schwierige, dunkle und schmerzhafte Themen zu verwickeln, wusste man nicht nur in Polen zu würdigen; Lupa hat unter anderem in Frankreich, in den USA und Deutschland gearbeitet und in den letzten Jahren in Vilnius hochkarätige Produktionen (Bernhards Heldenplatz und Austerlitz nach W. G. Sebald) inszeniert – und damit die Litauer dazu gezwungen, sich mit den dunkelsten Seiten ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Eine stereotype Sichtweise behandelt Realität und Traum als Gegensätze, als unterschiedliche Dimensionen. Lupa beweist das Gegenteil. Seine seltsamen, traumähnlichen Performances erweisen sich als Passage, durch die man zu den aktuellsten Problemen der Wirklichkeit gelangt.
Anna R. Burzyńska
Übersetzung: Liliana Niesielska
zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2024