1 Jul 2024

Zur Produktion: Die Orestie

Nicolas Stemann

„Das Tolle in der klassischen Tragödie ist: Jeder hat recht.“

Nach Faust I + II (2011) sowie Die Räuber (2008) beschäftigt sich der deutsche Regisseur Nicolas Stemann im kommenden Festspielsommer mit der griechischen Tragödie und verquickt Aischylos’ Orestie mit den Geschwisterwerken von Sophokles und Euripides. Die Neufassung entsteht vor dem Hintergrund weltweiter kriegerischer Auseinandersetzungen und einer Gegenwart, in der Demokratie immer mehr infrage gestellt wird. Im Interview spricht Stemann über seine Beweggründe, sich mit diesen antiken Stücken auseinanderzusetzen.

Warum Aischylos’ Orestie?
Man findet in diesem Stoff auf verschiedenen Ebenen jene Fragen, die man sich auch heute stellt, wenn man über die Welt und die Gegenwart nachdenkt. Die Grundfrage in der Orestie ist: Wie kommt man aus diesem Teufelskreis aus Rache und Vergeltung raus? Da bietet die Trilogie von Aischylos einige Antworten. Am Schluss werden die Rachegöttinnen gezähmt und zu Schutzgöttinnen der Stadt – das ist zugleich der Beginn der klassischen Demokratie und des Rechtswesens. Wie es jedoch dahin kommt – und ob das tatsächlich ein probater Weg ist, das zu erreichen, das ist eine andere Frage. Im Stück gelingt das auf eher zweifelhafte Weise. Aber eine solche Antwort zu versuchen ist ja trotzdem erst mal toll.

Was fasziniert Sie an der antiken Tragödie?
Das Tolle in der klassischen Tragödie ist: Jeder hat recht. Man hat Positionen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, aber für sich hat jede Position recht. In dem vermeintlichen Rechthaben machen die Figuren Dinge, von denen sie glauben, dass sie richtig sind, zum Beispiel: Sie morden. Sie morden in dem Bewusstsein, dass es nötig ist. Da stellt sich natürlich die Frage: Wie ist das motiviert – sind das Götter, die einen dazu bringen – oder sind diese Götter nicht eine Chiffre für innere Beweggründe, die in dem Moment absolut alternativlos erscheinen? Und dann passiert etwas: dass den Figuren das Morden nämlich nicht so viel bringt. Weder stellt sich Befriedigung ein noch sind sie in der Lage, diese Taten zu tragen. Man hat also zuerst eine vermeintliche Unausweichlichkeit, und in dem Moment, wo das Morden passiert, erlebt man, wie wenig Menschen eigentlich in der Lage sind, diese Taten zu tragen. Das Gleiche gilt – auf einer anderen Ebene – für den Krieg.

Inwiefern?
Es wird kein Krieg gezeigt in diesen Stücken, obwohl das Thema die ganze Zeit mitschwingt, sondern es wird gezeigt, was der Krieg mit den Menschen macht, und zwar sowohl mit den Opfern des Krieges als auch mit denjenigen, die vom Krieg profitieren. Die Orestie spielt nicht in Troja, nicht auf den Schlachtfeldern oder in der vom Krieg zerstörten Stadt wie etwa die Ilias. Sie spielt in Mykene – der Krieg ist gewonnen, und eigentlich könnte man feiern. Aber diese Feier misslingt, denn selbst die Menschen, die davon profitieren, wurden durch diesen Krieg zerstört, sodass sich die banale Frage stellt: Lohnt es sich? – Und andererseits, wenn es sich nicht lohnt: Warum passiert das immer wieder? Diese Fragen schwingen in diesem Stoff mit – und das macht ihn zeitlos.

Wie stellt man das auf der Bühne dar?
Wenn man sich mit so einem Stoff beschäftigt, kommt man tatsächlich schnell an den Punkt, wo man sich fragt: Wie bringt man so etwas auf die Bühne? Kann man Krieg überhaupt darstellen? Was ist ästhetisch zulässig, was geht angesichts des realen Leides? Wie geht man mit diesen Bildern um, die wir alle haben, reproduziert man sie oder blendet man sie aus? – Das ist aber im antiken Stoff schon angelegt, wo man – wie gesagt – lediglich den Abglanz des Krieges sieht. Man sieht Menschen, die auf verschiedene Art mit dem Krieg zu tun haben – als Nutznießer, als Zuschauer, als Opfer –, die sich aber nicht unmittelbar im Krieg befinden. Und das trifft ganz gut unsere Situation. Da ist diese Gleichzeitigkeit von einem vermeintlich friedlichen Leben hier in Mitteleuropa: Die Kriege kommen immer näher, aber wir kriegen es irgendwie hin, das permanent zu verdrängen. An diesem Abend geht es darum zu zeigen, was es bedeutet, dass wir in einer kriegerischen Welt leben und mit Kriegen verbunden, aber im Moment  nicht unmittelbar davon betroffen sind. – Und wie man damit lebt …

Ihre Inszenierungen sind bekannt für präzise Textfassungen, Musikalität der Sprache …
Man hat den Eindruck, bei Aischylos dauert jede Replik eine Seite und dann wird dagegen argumentiert, und das hat etwas sehr Statisches. Ich versuche, das zu übertragen, eine klassische Form beizubehalten, aber sprachlich so konkret und verstehbar wie möglich zu sein. Mich interessiert, Möglichkeiten zu suchen, dass man auch emotional und sinnlich in die Stoffe reingezogen wird, und diese antike Größe mit einer zeitgemäßen Konkretheit zu verbinden – das Verblüffende ist: Das geht!
Drei Viertel des Textes sind ja Chor-Text, da werden große Wahrheiten in den Raum gestellt. Das kann man als etwas sehr Vielstimmiges lesen: ein Chor, der die ganze Zeit auf der Suche nach Haltungen, Argumenten und Meinungen ist. Das ist fast wie Musik.

 

Zuerst erschienen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten 2024