Zwischen politischem Statement und transzendenter Vision
Mit Mahler, Schostakowitsch und Bruckner hallt ein tiefgründiger Ruf aus vergangenen Wendezeiten in eine Gegenwart im Wandel.
Eine deutliche Verschiebung der Repertoireschwerpunkte hat sich bei den Salzburger Festspielen während der vergangenen Jahre ergeben. Wo früher Beethoven, Brahms und Bruckner, vielleicht auch Tschaikowski die symphonischen Programme dominierten, führen nun deutlich Gustav Mahler und sein russischer Nachkomme Dmitri Schostakowitsch.
Mahlers Neunte steht mittlerweile fast schon traditionsgemäß am Beginn des Konzertreigens, obwohl gerade diese Symphonie lange Zeit hindurch als besonders schwierig galt. Die von elegischer Abschiedsstimmung getragene Symphonie erklingt heuer im ersten der Konzerte der Wiener Philharmoniker unter der Leitung Herbert Blomstedts.
Sie war übrigens die letzte der Mahlersymphonischen, die Salzburgs Langzeitregent Herbert von Karajan, dessen 30. Todestags heuer zu gedenken ist, in sein Repertoire aufnahm. Und die Aufführung, die er Anfang der Achtzigerjahre mit den Berliner Philharmonikern im Festspielhaus dirigierte, stand – vielleicht mit Leonard Bernsteins unvergesslicher Zelebration der Achten, einige Jahre zuvor – am Beginn der großen Wende: Seither messen sich die Maestri an den Wiedergaben der großen Mahler’schen Formbögen; und Schostakowitschs deutlich von Mahlers Subjektivismus beeinflusste, nicht minder weit gespannte symphonische Formen stießen hinzu. So ist es nicht mehr außergewöhnlich, wenn Teodor Currentzis für sein erstes Festspiel-Debütkonzert mit seinem SWR-Orchester des Russen Siebente Symphonie gewählt hat, ein Werk, das unverhüllt politische Ambitionen hat und sozusagen als Durchhalteappell für die Einwohner der von Hitlers Truppen belagerten Stadt Leningrad fungieren sollte. In Breitwandklang werden da äußere und innere Kämpfe vor den Hörern ausgefochten. Diese Siebente wurde als tönendes politisches Statement sogleich auch in den USA populär; in den letzten Monaten des blutigen Kriegs rissen sich die internationalen Dirigenten um die Erstaufführungsrechte.
Komponieren gegen Angst und Taubheit. Ohne politische Hintergedanken lässt sich auch Schostakowitschs Zehnte nicht hören, die unmittelbar auf den Tod des sowjetischen Diktators Stalin reagiert, dessen Terror der Komponist über viele Jahre als lebensbedrohlich empfinden musste. Nun schrieb er sich seine Wut und seine Angst in symphonischer Form von der Seele – das Scherzo, ein wütend hektischer Veitstanz, ist nach Aussage des Komponisten ein Porträt der verhassten Diktatorenfratze. Mariss Jansons, einer der meistgeachteten Schostakowitsch-Interpreten unserer Zeit, koppelt dieses Werk bei seinem Auftritt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Beethovens Zweiter, einem hellen, positiv getönten Stück, in dem für den Kenner gleichwohl Zwischentöne mitschwingen, wenn er weiß, dass diese Musik gleichzeitig mit dem erschütternden Heiligenstädter Testament entstand, also im Moment der bitteren Erkenntnis Beethovens von seiner kommenden, unaufhaltsamen Ertaubung.
Von letzten Dingen. Ganz offen zutage liegen Schostakowitschs humanistische Botschaften in der kammermusikalisch besetzten Symphonie Nr. 14, die wiederum nach Mahler’schem Vorbild eine Liedersymphonie, jedenfalls Satz für Satz die Vertonung von engagierten Gedichten darstellt, die abwechselnd von Sopran und Bariton gesungen werden: Mit Asmik Grigorian und Matthias Goerne hat sich Franz Welser-Möst für seine Wiedergabe der Solisten der Salzburger „Wozzeck“-Premiere 2017 versichert und konfrontiert diese Komposition mit Beschwörungen transzendenter Visionen, Richard Strauss’ „Tod und Verklärung“ und dem Vorspiel zu Richard Wagners „Parsifal“.
Von den letzten Dingen handelt auch Verdis große Totenmesse, die um Herbert von Karajans Todestag dreimal auf dem Festspielprogramm steht: Riccardo Muti dirigiert Staatsopernchor, Philharmoniker und ein illustres Solistenquartett mit Krassimira Stoyanova, Anita Rachvelishvili, Francesco Meli und Ildar Abdrazakov im Gedenken an jenen Mann, der drei Jahrzehnte lang die Salzburger Geschicke beherrscht – und Muti seine ersten, viel beachteten Festspielauftritte ermöglicht hat.
Mahlers Lebensstürme, Barenboims Divan. Ein reines Mahler-Programm hat sich Daniel Barenboim für seinen Auftritt mit den Wiener Philharmonikern ausgesucht: Okka von der Damerau singt die „Kindertotenlieder“, hernach erklingt die fünfte Symphonie, die von einem Trauermarsch über Lebensstürme und Tänze zu einem Liebeslied führt, um zuletzt einem jubilierend-enthusiastischen D-Dur-Ausklang zuzustürmen. Mahlers in derselben Tonart stehende Erste hat Jonathan Nott in seinem Programm mit dem ORF Radio-Symphonieorchester auf dem Programm, nebst Luciano Berios instrumentalem zweiten Teil der populären „Folk Songs“ namens „Voci“, gesetzt für Orchester und Solobratsche (Antoine Tamestit).
Daniel Barenboim ist heuer bei den Festspielen vielbeschäftigt. Er leitet nicht nur die Philharmoniker, sondern auch wieder sein aus Israeli und Palästinensern zusammengesetztes West-Eastern Divan Orchester, das unter seiner Leitung einmal Schuberts „Unvollendete“ und Lutosławskis „Konzert für Orchester“ mit Tschaikowskis erstem Klavierkonzert (mit Martha Argerich) kombiniert und am zweiten Abend Beethovens Siebente mit dem Violinkonzert von Jean Sibelius, wobei die Solistin Anne-Sophie Mutter mit dem einleitend gebotenen dritten Satz aus dem ihr gewidmeten Violinkonzert von André Previn ihres heuer verstorbenen Lebenspartners gedenken wird.
Mit Instrumentalisten des West-Eastern Divan Orchesters konzertieren Martha Argerich und Daniel Barenboim auch kammermusikalisch: Rares von Robert Schumann und Sergej Prokofjew steht neben dem viel gespielten Klavierquintett von Schostakowitsch. Bruckner haben Andris Nelsons bei seinem Gastspiel mit dem Leipziger Gewandhausorchester (die Neunte) sowie Herbert Blomstedt mit dem Gustav Mahler Jugendorchester im Programm: Die jungen Musiker begleiten vor der Wiedergabe der selten gespielten sechsten Symphonie den Bariton Christian Gerhaher bei den ebenso selten gesungenen „Biblischen Liedern“ von Antonín Dvořák.
Symphonisches Schlachtross und ein Marathonkonzert. Die Siebente Bruckners dirigiert Bernard Haitink in seinem Programm mit den Wienern nach Beethovens Vierter, während Kirill Petrenko, erstmals offiziell in seinem Amt als Chefdirigent, mit seinen Berliner Philharmonikern in zwei Programmen Werke der Wiener Schule an Klassik und Romantik misst: Marlis Petersen singt nach dem Liedsatz in Alban Bergs „Lulu“-Suite auch das Sopransolo in Beethovens Neunter an der Seite von Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns und Kwangchul Youn. Und Patricia Kopatchinskaja spielt das Solo in Arnold Schönbergs hochkomplexem Violinkonzert, das zu den wichtigsten Werken aus der Zwölftonphase des Komponisten gehört – dagegen stellt Petrenko Tschaikowskis Fünfte, eines der meistgespielten symphonischen „Schlachtrösser“ des romantischen Repertoires – man darf sicher sein, dass der Dirigent auch hier neue Facetten aufdecken wird.
Für zukunftsorientierte Musikfreunde empfiehlt sich der Besuch des Marathonkonzerts, das am 20. August von 16 bis 22 Uhr das dreiteilige Finale der Angelika-Prokopp-Sommerakademie bildet: Mitglieder der Wiener Philharmoniker haben mit ausgewählten jungen Solisten 20 Kammermusikwerke einstudiert – und loten damit das künstlerische Potenzial der nächsten Musikergeneration aus.
„Die Presse“, Salzburger Festspiele, 01.06.2019
Herbert Blomstedt dirigiert Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9 D-Dur mit den Wiener Philharmonikern. Außerdem hat er die musikalische Leitung beim Konzert des Gustav Mahler Jugendorchesters mit Antonín Dvořáks „Biblische Lieder“ und Anton Bruckners Symphonie Nr. 6 inne.
Inwiefern ist Mahlers Neunte ein komponierter Abschied, inwiefern merkt man ihr seine Krankheit und den nahenden Tod an? Ein abendfüllender Abschied?
Eher 90 Minuten, in denen ein ganzes Leben vorbeizieht – ein Leben voll von Sehnsucht und Liebe, aber auch von Konflikten und Schrecken. Über dem Ganzen schwebt ein intensives Gefühl der Verlassenheit, das zum Schluss in totale Einsamkeit mündet. Das „Lebwohl“ der Anfangstakte entspricht dem „ersterbend“ der Schlusstakte. Der Schlusssatz steht unter dem Motto „Bleibe bei mir!“ Aber das Gebet wird nicht erhört. Es ist ein Erlebnis, das spielen zu dürfen – und ein Erlebnis, es zu hören. Wir sind alle im selben Boot. Zu seiner Krankheit und dem nahenden Tod: Man hört förmlich, wie Mahlers krankes Herz schlägt, symbolhaft, fast durchgehend im Hintergrund. Aber manchmal auch konkret vordergründig. Beispielsweise gleich in den ersten Takten mit dem scheinbar unregelmäßigen und leisen Rhythmus der Celli und des Horns. Aber dann auch später in den schicksalhaften Fortissimoschlägen der („letzten“) Posaunen und Pauken. Nicht nur der Komponist geht hier seinem Ende zu, sondern mit ihm auch wir, und vielleicht unsere ganze Kultur. Können wir das stoppen?
Andris Nelsons leitet das Gewandhausorchester Leipzig bei Bruckners Symphonie Nr. 8 c-Moll.
Was macht Bruckners Achte so einzigartig innerhalb seines Œuvres?
Mit dem Gewandhausorchester erarbeite ich gerade einen Zyklus sämtlicher Symphonien von Anton Bruckner, jetzt sind wir bei der Achten Symphonie angelangt, die wahrscheinlich der Gipfel in Bruckners symphonischem Schaffen ist: Es ist seine letzte Symphonie, sie enthält sein letztes vollendetes Finale, das wie ein gewaltiges Schlusswort ist. Und das Adagio gehört zum Großartigsten, was Bruckner überhaupt geschrieben hat.
Mit einer Dauer von über 80 Minuten ist die Achte die längste und komplexeste aller Bruckner-Symphonien. Es ist zunächst einmal eine konditionelle Leistung, die Spannung über diesen langen Zeitraum zu erhalten. Gleichzeitig hat das Werk eine emotionale Vielfalt, wie man sie nur selten findet. Der fragende Beginn und die harmonischen Kühnheiten schon im ersten Satz, dann das volkstümliche, rustikale Scherzo, das großartige Adagio, in dem größte Schlichtheit und Komplexität ineinander greifen, und schließlich das grandiose Finale, in dem am Schluss die Hauptthemen aller vier Sätze übereinander geschichtet werden. Das ist ein krönender Abschluss – auch wenn Bruckner danach noch seine unvollendet gebliebene Neunte komponierte, mit der er das Tor in die Zukunft noch weiter aufstieß …
Das Gewandhausorchester ist natürlich in ganz besonderer Weise mit dieser Musik verbunden. Das Orchester hat die Siebte Symphonie zur Uraufführung gebracht und – ebenfalls unter Arthur Nikisch – den allerersten Zyklus all seiner Symphonien aufgeführt. Seitdem gehört diese Musik zur DNA des Gewandhausorchesters, und der Leipziger Klang ist hierfür bis heute ideal: Die große Erfahrung im romantischen Repertoire, aber nicht zuletzt auch mit der Musik Johann Sebastian Bachs kommen der Symphonik Bruckners sehr entgegen. Diese Kombination, diese spezielle Klangkultur – die gibt es so nur in Leipzig.