„Solange man atmet, hofft man“
Anita Lasker-Wallfisch
Biografie
Anita Lasker wurde am 17. Juli 1925 in Breslau geboren, wo sie in einer assimilierten jüdischen Notarsfamilie gemeinsam mit zwei Schwestern aufwuchs. Zu Hause wurde viel musiziert, alle drei Kinder lernten ein Instrument, Anita das Cello. Nach 1933 war es in Breslau schwierig, Cellounterricht zu erhalten: die jüdischen Lehrer emigrierten, die „arischen“ weigerten sich, ein jüdisches Mädchen zu unterrichten, weshalb die 13-Jährige nach Berlin zu Leo Rostal geschickt wurde, wo sie Privatunterricht erhielt. Nach dem Novemberpogrom 1938 kehrte sie nach Breslau zurück. Der ältesten Schwester Marianne gelang es im letzten Moment, nach England zu entkommen. Sämtliche Auswanderungsversuche, die Alfons Lasker für seine Familie unternahm, schlugen jedoch fehl. Die jüdische Oberschule wurde geschlossen und die Wohnung der Laskers beschlagnahmt. Währenddessen veranstaltete der Jüdische Kulturbund in Breslau immer noch Konzerte; an vier Abenden trat u.a. auch Anita Lasker mit einem Soloprogramm auf. Am 9. April 1942 bekamen die Eltern in Breslau den Deportationsbefehl. Sie wurden nach Izbica bei Lublin verschleppt und dort ermordet. Eine Tante und ein Onkel waren schon vorher deportiert worden, die 82-jährige Großmutter wurde etwas später geholt. Sie gelten alle als verschollen und ermordet.
Die beiden Schwestern Anita und Renate Lasker konnten zusammenbleiben. Die Mädchen hatten seit 1941 Zwangsarbeit in einer Papierfabrik zu leisten. Sie nutzten diese Tätigkeit u.a. zu illegaler Widerstandsarbeit und verhalfen französischen Kriegsgefangenen, die in derselben Fabrik eingesetzt waren, zur Flucht, indem sie bei der Anfertigung gefälschter Papiere mitwirkten. Ein eigener Fluchtversuch mit selbst gefälschten Papieren scheiterte und brachte die Schwestern im September 1942 ins Gefängnis von Breslau: Anita Lasker wurde zu 18 Monaten, ihre Schwester zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Angesichts dessen, was ihnen bei einer Deportation drohen würde, begrüßten sie die Urteile. Es kam aber anders.
Ende 1943 wurde Anita Lasker, etwas später auch ihre Schwester Renate, ins KZ Auschwitz-Birkenau verbracht. Anita Lasker kam in die von Alma Rosé geleitete Lagerkapelle, und auch Renate entging der Selektion bei der Ankunft und traf etwas später wieder mit Anita zusammen. Die Musikerinnen mussten den Auszug der Häftlinge am Morgen und ihre Rückkehr ins Lager am Abend begleiten. Gespielt wurden Märsche und marschartige Volkslieder, und zwar im Freien am Lagertor, bei jedem Wetter und im Anblick der geschundenen Häftlinge und der rauchenden Schornsteine. Tagsüber wurde geprobt oder an Arrangements für die skurrile Besetzung des Orchesters gearbeitet. Sonn- und feiertags sowie zu speziellen Anlässen mussten Konzerte mit aktuellen Schlagern oder Stücken aus Operetten und Opern gegeben werden.
Im Oktober 1944 wurde auf Befehl Heinrich Himmlers damit begonnen, die Vergasungsanlagen im KZ Auschwitz zu zerstören, weil die sowjetischen Truppen anrückten. Anita und Renate Lasker kamen zusammen mit anderen Mitgliedern der Kapelle ins KZ Bergen-Belsen. Sie überlebten auch diese letzte Tortur. Am 15. April 1945 wurde Bergen-Belsen von britischen Truppen befreit. Fünf Tage später gab Anita Lasker ein Radio-Statement, das die britischen Befreier aufzeichneten und übertrugen. In dieser Ansprache, die wahrscheinlich das erste Zeugnis einer Holocaust-Überlebenden auf Tonband ist, machte sie Angaben über die Zustände und Verbrechen im KZ Auschwitz. Nach Errichtung eines Camps für Displaced Persons in der Nähe des KZ Bergen-Belsen normalisierte sich das Leben langsam. Anita Lasker sehnte sich nach Musik, und tatsächlich wurde für sie ein Cello aufgetrieben. Der Name Anita Lasker findet sich etwa auf Programmzetteln von Konzerten im DP-Camp Bergen-Belsen. Als im September 1945 in Lüneburg der erste große deutsche Kriegsverbrecherprozess eröffnet wurde, stellte sich Anita Lasker als Zeugin zur Verfügung. Zudem betrieben die Schwestern Lasker ihre Ausreise aus Deutschland, die nach allem, was sie erlebt hatten, einer Flucht gleichkam. Es gelang ihnen Ende 1945, mit falschen Papieren zunächst nach Belgien zu gehen, wo sie ihre Bemühungen in der britischen Botschaft fortsetzten. Anita Lasker fand einen Cellolehrer und wurde vorübergehend Mitglied des Orchestre Symphonique de l’Université Libre de Bruxelles. Im März 1946 konnten sie dann endlich nach England reisen. Das Nachkriegsexil in Großbritannien wandelte sich für Anita Lasker allmählich in eine neue Heimat. 1948 traf sie in London Leo Rostal wieder, der ihr früher in Berlin Cellounterricht gegeben hatte. Sie nahm ein geordnetes Musikstudium an der Guildhall School of Music auf, wurde 1949 Mitbegründerin des English Chamber Orchestra und ist seit 1951 britische Staatsbürgerin. Anita Lasker heiratete den ebenfalls aus Breslau stammenden Pianisten Peter Wallfisch. Ihre Leidensgeschichte hielt sie vor ihren Kindern und Enkelkindern verborgen, um sie nicht zu belasten. Bei Reisen ihres Orchesters nach Deutschland blieb sie in London, weil sie sich geschworen hatte, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Es dauerte 40 Jahre, bis sie sich entschloss, ihre und die Geschichte ihrer Familie für die Kinder aufzuschreiben. Es entstand das Buch Ihr sollt die Wahrheit erben, das zuerst auf Englisch (1996) und danach in zwei Ausgaben auf Deutsch erschien (1997 und 2001) und später ins Französische, Italienische, Holländische und Japanische übersetzt wurde.
Seit den 1990er-Jahren tritt Anita Lasker-Wallfisch in der Öffentlichkeit als Zeitzeugin auf und macht Lesereisen durch deutsche Schulen. Sie war eine der Überlebenden von Bergen-Belsen, die beim Staatsbesuch Königin Elisabeths II. im Juni 2015 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers eingeladen waren. Im Januar 2018 hielt Anita Lasker-Wallfisch in einer Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestags eine Rede anlässlich des 73. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Im September 2019 wurde sie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „für ihren Einsatz gegen Judenhass und Ausgrenzung“ mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. Anita Lasker-Wallfisch lebt in London.
Quelle
Peter Petersen: Anita Lasker-Wallfisch, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hg. v. Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Hamburg: Universität Hamburg, 2007 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001580)
Wir danken Peter Petersen für die Genehmigung.
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